Die Kritiker

«Verirrte Kugel 2»: Guillaume Pierret nächster Hit

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Korrupte Polizisten, Drogen - und mittendrin ein Kleinkrimineller mit Ehre und Anstand. «Verirrte Kugel» war 2020 ein Überraschungshit auf Netflix - einer dieser Filme, die niemand erwartet und die es dann um so ordentlicher krachen lassen. Obgleich die Geschichte beendet erschien, ist nun Teil 2 auf Netflix gestartet. Ob der sich lohnt?

Stab

Originaltitel: Balle perdue 2
Regie: Guillaume Pierret
Drehbuch: Guillaume Pierret und Alban Lenoir
Musik: Romain Trouillet
Kamera: Morgan S. Dalibert
Produktion: Rémi Leautier
Ausstattung: Delphine Richon
Darsteller: Alba Leoir, Stéfi Celma, Pascale Arbillot, Sébastien Lalane, Diego Martin, Anne Serra, Jérôme Niel, Quentin d'Hainaut

Frankreich 2022
Kurz und knapp: Ja! Angucken. «Verirrte Kugel 2» rockt den Bildschirm. Wer eine längere Begründung für diese klare Empfehlung wünscht, Teil 1 aber nicht kennt, wird akzeptieren müssen, dass der folgende Text massiv die Geschehnisse des ersten Teiles spoilert. «Verirrte Kugel», der Titel ist eine eher misslungene Übertragung des Originaltitels in Deutsche, kam 2020 aus dem Nichts. Zumindest auf dem deutschen Markt. «Verirrte Kugel» ist eine französische Produktion, die auf den Spuren von Luc Besson-Actionkrachern à la «96 Hours» oder «Transporter» wandelt. Handgemachte Action, eine nie stillstehende Kamera, eine simple, aber packende Geschichte - und ein Mann gegen den Rest der Welt. Im Fall von «Verirrte Kugel» heißt der Held wider Willen Lino. Der ist eigentlich ein Krimineller, der zum Beispiel Juweliere ausraubt. Allerdings nicht mit vorgehaltener Waffe. Des Nachts rast er in ihre Geschäfte und nimmt sie aus. Sein letzter Coup geht allerdings schief. Es hakt etwas und das im wahrsten Sinne des Wortes: der Gurt. Lino kommt aus seinem Wagen nicht raus und wird verhaftet.

So wird der Polizist Charas auf Lino aufmerksam. Lino hat für seinen letzten Coup einen Clio benutzt und ist mit diesem durch vier Betonwände gerast. Wer einen Clio derart umbauen kann, ist genau der Mann, den Charas braucht. Charas ist der Anführer einer Polizeitruppe, die irgendwo nahe der spanischen Grenze Drogendealer jagt. Die kommen mit schnellen Autos. Um sie aufzuhalten, braucht Charas nicht nur verdammt viele Pferdestärken unter der Motorhaube. Seine Autos müssen mehr können. Schneller, höher, krachender – könnte das Motto lauten. Charas unterbreitet Lino ein Angebot: Lino bringt seine Fähigkeiten als Mechaniker für die Polizei ein, im Gegenzug sorgt Charas dafür, dass er nur noch zum Schlafen ins Gefängnis gehen muss.

Neun Monate später ist Lino ein akzeptiertes Mitglied der Truppe und ein guter Freund von Charas. Die beiden Männer mögen sich, begegnen sich auf Augenhöhe. Lino ist im Grunde seines Herzens eine ehrliche Haut, ein Kerl, der irgendwann auf die schiefe Bahn geraten ist. Er hat die Chance, die ihm Charas geboten hat, mit Freuden angenommen. Sein Leben scheint sich endlich auf der richtigen Spur zu bewegen. Bis zu jenem Tag, an dem Charas den Drogendealern, die er jagt, etwas zu nah auf die Fersen rückt. Die Männer, die er nämlich jagt, sind zwei Kollegen. Areski und Marco. Als Areski klar wird, dass Charas ihnen offenbar auf die Schliche gekommen ist, erschießt Areski Charas und hängt den Mord Lino an, der direkt verhaftet wird. Doch Lino entkommt aus der Haft und beginnt seinerseits die Jagd auf die Mörder. Und es gibt einen Beweis für seine Unschuld – eine verirrte Kugel, die Charas getroffen hat und aus Areskis Waffe stammt.

«Verirrte Kugel» ist ein Kracher. Es gibt im Actionfilm die Regel, dass sich ein Actionheld vor allem dadurch definiert, was er einstecken kann. Und Lino kann einstecken. Schon die Ausbruchssequenz, in der er sich mit der gesamten Belegschaft einer Polizeiwache prügelt, ist schlichtweg ein Hammer. Vor allem, da man diesem Kerl einfach abnimmt, dass er Schläge einstecken kann. Alban Lenoir heißt diese Naturgewalt mit bürgerlichen Namen und es verwundert nicht, dass dieser Alban Lenoir seine Karriere beim Film eigentlich als Stuntman begonnen hat.

Am Ende von «Verirrte Kugel» ist Lino Held und tragische Figur zugleich. Im Verlauf der Handlung kommt sein jüngerer, kleinstkrimineller Bruder (oder „adoptierter“ Bruder, so ganz genau wird dies nie geklärt) zu Tode; er selbst aber kann Areski und Marco überführen und seine Unschuld beweisen. Womit die Geschichte eigentlich auserzählt erschien...

Tatsächlich haben sich die Macher ein Hintertürchen für eine Fortsetzung offengehalten. Lino gelingt es, Marco in einem Bauernhaus zu überwältigen und mit einer Handschelle an eine Eisenstange zu fesseln. Areski jedoch entkommt. Dessen letzter Blick gilt seiner Frau und seiner kleinen Tochter, die nicht ahnen, dass der aufrechte Drogenfahnder in Wahrheit ein skrupelloser Drogenhändler und Mörder ist. Dann verschwindet er mit einer Tasche voll Geld.

Und genau an diesem Moment knüpft Teil 2 an. Lino muss erfahren, dass nicht nur Areski untergetaucht ist, auch Marco hat offenbar fliehen können. War alles umsonst? Monate beschattet Lino Areskis Frau Stella. Seine Obsession geht so weit, dass seine Kollegin (und Charas Nachfolgerin) Julia alle Hände voll zu tun hat, Lino vor einem Verfahren wegen Stalkings zu bewahren. Lino wirkt, als hätte er den Verstand verloren. Zumindest bis zu dem Abend, an dem Männer vor Stellas Haus auftauchen und die Polizisten, die eigentlich ein Auge auf Stella werfen sollen, zu einem Einsatz abberufen werden. Der Weg scheint frei. Die Männer dringen in das Haus ein, um Stella gewaltsam zu entführen. Hat Areski sie geschickt? Vermutlich. Womit sie nicht gerechnet haben, ist Lino. Wie sich zeigt, hatte der allen Grund Stella zu beschatten.

Sein Einschreiten eröffnet Julia eine ungewöhnliche Möglichkeit: Wenn Lino ihr sein Wort gibt, sich auf das zu konzentrieren, was er besonders gut kann – Autos frisieren und fahren – dann sorgt sie dafür, dass er in den Polizeidienst aufgenommen wird.

Neun Monate später ist Lino tatsächlich ein Polizeibeamter und ein geachtetes Mitglied der Spezialeinheit. Zumindest bis zu dem Moment, in dem er feststellt, dass die Drogenhändler, die er jagt, offenbar allesamt Polizisten sind. Areski und Marco waren da nur die Spitze eines Eisbergers. Und nicht nur das: Marco ist keinesfalls entkommen. Marco ist im Zeugenschutz (was Julia vor Lino verschwiegen hat). Und aus diesem Programm soll er (nach einem Zwischenfall, der an dieser Stelle nicht weiter von Belang ist) ausgerechnet der Polizeitruppe übergeben werden, die verdächtigt wird, in Wahrheit mit Drogen zu handeln. Der Gerichtsbeschluss ist unanfechtbar. Nun ist es ausgerechnet an Lino, Marco zu beschützen, denn Lino ist in diesem Moment der einzige Polizist, der auf den Gerichtsbeschluss pfeift.



«Verirrte Kugel 2» erzählt keine komplexe Geschichte. Das muss der Film aber auch nicht, denn das, was er an Geschichte erzählt, reicht aus, um es krachen zu lassen. Die Figuren sind auf den Punkt definiert. Die Story eines Mannes auf der Flucht geht immer – und dann ist da eben Alban Lenoir, der einsteckt, austeilt, noch mehr einsteckt und noch mehr austeilt. Am Ende von «Verirrte Kugel 2» sieht Linos Gesicht wie die Zusammenfassung aller «Rocky»-Filme aus. «Verirrte Kugel 2» ist ein Adrenalinrausch, der die letzten beiden «Fast & Furious»-Filme irgendwie fußkrank erscheinen lässt. Natürlich ist das alles vom Aufwand her überhaupt nicht vergleichbar. Manchmal braucht es jedoch bodenständiges Handwerk, um Begeisterung hervorrufen zu können. Gelernt haben die französischen Macher von ihrer großen, amerikanischen Bruderserie allerdings eines: Nämlich, wie man eine Serie kreiert! So dürften im Verlauf der Zusammenfassung der Handlung des zweiten Teils zwei Auslassungen aufgefallen sein.

1. Wenn Areski am Ende des ersten Teils untertauchen konnte – warum wird er in der Zusammenfassung der Handlung von Teil 2 dann gar nicht erwähnt?
2. Warum bleibt die Beschreibung jener Polizeitruppe so schwammig, die es offenbar auf den Kronzeugen Marco abgesehen hat?

Die Antwort ist simpel: Weil Teil 2 ein großer Prolog für Teil 3 ist. Es hat Gründe, warum die bösen Polizisten vergleichsweise namenlose Gesichter bleiben und Areski keine Rolle spielt. Regisseur und Autor Guillaume Pierret ist zwar schlau genug, «Verirrte Kugel 2» mit einem Ende zu versehen, das für sich stehen kann, sodass die Story für sich besteht, sollte Netflix keinen dritten Teil produzieren. Doch er kreiert eben auch Szenen, die ihre Auflösung letztlich erst in einem dritten Teil finden können.

So bleibt zu hoffen, dass «Verirrte Kugel 2» so viele Zuschauer in der Welt von Netflix findet, auf dass der dritte Teil nicht nur eine Idee bleibt!

«Verirrte Kugel 2» kann bei Netflix gestreamt werden.

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