Interview

Johannes Boss: ‚«Deadlines» ist wie altes Album zu hören‘

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Der Autor von «Deadlines» und «Oh Hell» erzählt von seiner Arbeit und wie er so komische Figuren kreiert.

Hallo Herr Boss! Am 10. Februar 2023 stellt das ZDF die neuen Folgen von «Deadlines» online. Welches Fazit hat das ZDF nach der ersten Staffel gezogen?
Der Sender hat sich begeistert gezeigt und uns einen großen Vertrauensvorschuss gegeben, indem zwei Staffeln auf einen Schlag bestellt wurden. Kannte ich so auch noch nicht. Das bedeutet für uns, dass wir in größeren Bögen entwickeln können, schon während des Schreibens der zweiten Staffel Stränge anlegen konnten, die in der dritten weitergeführt werden. Es ermöglicht auch Raum für das Uneigentliche, Subtile, für Feinheiten im Zwischenmenschlichen, etwa den beiläufigen Befund in einer Folge sechs, dass keine der Freundinnen jemals bei Franzi zu Hause war - und plötzlich öffnet sich dieses Zuhause als ein Schrein von Einsamkeit, mit einem erfundenen Bruder, einem ausgestopften Lama und einem unangetasteten Millionenerbe, das Franzi aus Wut und Scham über ihre lieblose Kindheit einfach hat liegen lassen. Was genau sich in diesem Schrein verbirgt, müssen wir aber nicht in Folge 7 und 8 propfen, sondern können es in der nächsten Staffel langsam entdecken.

Die Serie beschreibt ja einen emotionalen Flashback innerhalb der Drucksituationen der Gegenwart: Sich fühlen wie 17, aber vor den existenziellen Entscheidungen von paarunddreißig zu stehen. «Deadlines» ist wie das Gefühl, ein altes Album von Alicia Keys zu hören oder sich noch mal in den VW Golf zu setzen, in dem man fahren gelernt hat. Der wiedergefundenen Jugendfreundschaft von vier Frauen, einer tiefen Freundschaft, muss das Format in ihren strukturellen Entscheidungen folgen. Es muss so eindringlich, impulsiv, gegensätzlich und widersprüchlich erzählen können wie diese Freundschaft selbst.

Erneut erscheint «Deadlines» in der Mediathek, danach folgt die lineare Ausstrahlung. Bei ZDFneo läuft die zweite Staffel nach erfolgreichen Krimis. Freut es Sie, dass Sie so einen starken Vorlauf bekamen?
Nein. Ich beschäftige mich nicht mit dem Vorlauf. Die einzige Zahl, die mich interessiert, ist die Absprungrate in der Mediathek, also die Frage, wie viele der Zuschauerinnen dabeibleiben. Diese Zahl war in der ersten Staffel überdurchschnittlich gut, «Deadlines» ist ein Binge, aber kein Plot-Binge, sondern ein Figuren-Binge. Mir geht es darum, dass die Serie Zuschauerinnen fordert, gerne auch mal überfordert, und keine unterkomplexe Einladung zum Ablachen ist, sondern es ermöglicht, die Figuren zwischendurch scheiße zu finden, an ihnen schütteln zu wollen, weil sie wieder über ihre eigenen Füße stolpern, und, das kommt in Staffel 2, auch ernsthaft traurig mit ihnen zu sein. Mit «Deadlines» versuche ich, Comedy und Drama auf möglichst unberechenbare Weise immer wieder miteinander zu vernähen. Es muss darum gehen, in einer gespannten Ungewissheit zu bleiben, ob man in der nächsten Szene - im nächsten Moment - lachen oder weinen wird.

Jetzt geht es mit acht neuen Folgen weiter. Was passiert den „Goldstein Girls“ in der zweiten Staffel?
Wir treffen die vier nach knapp zwei Jahren wieder; Elif nutzt ihre Macht, um sich an alten Verletzungen abzuarbeiten, allerdings nicht mit Gesprächstherapie oder Biofeedback, sondern mit der klassischeren Therapieform der Rache. Sie steht auch weiterhin vorn, wenn es darum geht, Beef zu suchen und auszufechten, insbesondere natürlich mit Männern. Franzi erklärt gleich zu Anfang, sie sei schwanger, wolle sich aber die dazugehörige Familie, ihre Lebensanschauungen und Werte erst noch mal genau überlegen, indem sie alles Mögliche „ausprobiert“, etwa den Islam. Sie ist in der zweiten Staffel ein freischwebendes Teilchen, und wir ahnen, wie schon angesprochen, dass sie Geheimnisse verbirgt. Jo hat einen Plattendeal bekommen und ist ein Balenciaga-tragendes Icon des Kunstbetriebs geworden, aber sie ist halt auch immer noch Jo, die Frau, die sich eigentlich am besten fühlt, wenn sie nachts in der Sparkasse übernachtet. Bei ihr stellt sich die Frage: Wird sie tatsächlich erfolgreich sein in dieser neuen Welt? Was macht das mit der Freundschaft? Lena steckt in der ersten Staffel in einer schrecklich perfekten Demeter-Familienidylle mit liebem Mann, Pflegekind und Kumquats zum Nachtisch, kommt aber mit den eigenen inneren Zweifeln nicht zurecht; jetzt erlebt sie sowas wie die Apokalypse, die Probleme kommen von außen, und zwar nicht ein einziges, sondern ein Problem nach dem anderen. Und dann passiert etwas Irres mit ihr.

«Deadlines», «Oh Hell» oder auch «jerks.» – Wie kommen Sie auf solche ausgefallen Drehbücher? Woher nehmen Sie die Ideen dazu?
Ich suche mir Figuren, die mich wirklich interessieren. Die mir was erzählen, die mich irritieren, die ich mag oder die ich auf einnehmende Weise hasse, deren Sound ich jederzeit finden kann. In denen liegt dann das ganze erzählerische Potential. Auch bei «Deadlines» haben Nora Gantenbrink, meine Mitautorin und ich, lange nur über die Figuren geredet, bis hin zu Ausdrücken, die sie verwenden, oder der Frage, wie sie ihren Müll trennen. Das galt auch für «Jerks», gemeinsam mit Christian Ulmen und den Mitautoren sind wir viel im gedanklichen Kosmos der beiden Hauptfiguren unterwegs gewesen.

«Oh Hell» setzt diese Arbeitsweise sozusagen in Reinform um: Alles folgt aus den Eigenheiten und dem inneren Chaos der Hauptfigur. Das wird auch in meinen zukünftigen Arbeiten so sein. Ich folge der Figur. Seit ich bei «Deadlines» als Showrunner selbst gecastet habe, kommt noch eine wichtige Phase hinzu: Für mich ist die Interpretation durch die Schauspielerinnen, ihre gedankliche Arbeit, die oft sehr nah an der Arbeit der Autorinnen und Autoren ist, ein entscheidender Einfluss, um die Bücher dann nochmal zu überarbeiten und zu finden. Elif hat einen Autorinnenanteil von Jasmin Shakeri, Franzi einen von Llewllyn Reichman, Jo einen von Salka Weber, Lena einen von Sarah Bauerett. Es ist wichtig, die Figur nur so lange für fertig zu erachten, bis jemand „in sie hinein geht“ und noch ganz viele weitere Anteile findet. In der 2. Staffel «Deadlines» habe ich auch Regie geführt und das war meine wichtigste Entscheidung im Vorfeld: Die vier Hauptdarstellerinen bekommen so viel Raum wie irgend möglich.

Von Ihnen stammt auch «Oh Hell». Die Comedy-Serie lief zunächst bei Magenta TV, von der Deutschen Telekom. Haben Sie Informationen, wie hoch die Abrufzahlen waren?
Nein. Ich lese immer nur die Kritiken und bin nach wie vor fast schockiert darüber, wie gut die Serie besprochen wird, zuletzt hat der „Hollywood Reporter“ geschrieben, Oh Hell sei „arguably the best series 2022“. Für das Schreiben der Bücher der zweiten Staffel bringt das allerdings nichts.

Beim Fernsehpreis 2022 erhielt «Oh Hell» den Preis der besten Serie. Ich kenne niemanden, der die Serie zum damaligen Zeitpunkt sah. Doch über Sky und Warner TV Comedy scheint die Reichweite gestiegen zu sein.
Na klar. Auch die Möglichkeit, es international zu streamen, über HBO Max, erhöht die Reichweite. Und man kann sich ja jederzeit bei Magenta TV anmelden.

«Oh Hell» weicht deutlich von einer klassischen Comedy-Serie ab und ist dennoch die beste Serie des Jahres. Was macht das Format so gut? Dass man die Konzepte des Sitcom-Geschäfts über Bord wirft?
Danke für das Lob! Ja, das ist ein Teil, bestimmt. Und gleichzeitig wirft es erstmal gar nichts über Bord, weil es sich gar nicht so sehr mit den Konzepten und Gesetzmäßigkeiten beschäftigt. Es kann ja sogar sein, dass die Serie zwischendurch mal eine ganz klassische Sitcom-Sequenz hat, im nächsten Moment aber ist sie wo ganz anders. Helenes Tempo und ihre vielen gedanklichen Twists sind halt ein Bruch mit den Berechenbarkeiten klassischer Comedy-Formate. Heinz Strunk hat mal gesagt: Comedy ist ein Verbrechen. Ich würde das für mich präzisieren: Comedy ist ein Verbrechen, wenn es zum Selbstzweck wird, wenn das Komische, das in Figuren steckt, noch mit einer lustigen Mütze und einem furzdrolligen Soundeffekt getoppt werden soll, und alles mit einer Punchline endet, jede Figur in jedem Moment über einen lustigen verbalen Schlenker oder eine exaltierte Sprechweise ihre Lustigkeit herausschreien muss. Ich schneide mittlerweile all meine Serien selbst, unter anderem, um das zu verhindern. Diese Red-Nose-Day-Idiotie. Comedy muss, zumindest für mich, umgeben sein von Drama, Irritation, rhythmischer Unberechenbarkeit. Und: Gerade Comedy muss kompliziert sein dürfen.

der vierten «jerks.»-Staffel saßen sie zu viert am Drehbuch der Episoden. Wie muss man sich eine solche Arbeit vorstellen?
Man sammelt Geschichten, oft vom Ende an den Anfang gedacht, also: Was wäre jetzt, in diesem Quotenmeter-Interview, das Schlimmstmögliche, was mir passieren könnte? Und dann: Wie konnte es dazu kommen? Das diskutiert man dann gemeinsam, und Christian führt es zu einer Fassung zusammen, mit der er in den Dreh geht. Ich bin ja vor der 5. Staffel ausgeschieden, auch weil ich nach vielen intensiven Jahren mit Christian mehr selbst entscheiden wollte, eigene Stoffe realisieren wollte. Aber sehr vieles von dem, was ich jetzt kann, habe ich im Austausch mit ihm trainiert.

Welche Projekte stehen in diesem Jahr noch an? Können Sie dazu etwas verraten?
Derzeit schreibe ich an den Büchern zur zweiten Staffel «Oh Hell». Das drehen wir im Frühsommer. Auch die dritte Staffel «Deadlines» entsteht 2023. Alle anderen Projekte sind noch geheim.

Danke für Ihre Zeit!

«Deadlines» startet am Dienstag, den 14. Februar, um 21.45 Uhr bei ZDFneo. Seit 10. Februar sind alle neuen Episoden in der ZDFmediathek abrufbar.

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