Stab
Regie: Lancelot von Naso
Drehbuch: Stefan Holtz, Florian Iwersen
Bildgestaltung: Peter von Haller
Musik: Martina Eisenreich
Szenenbild: Pierre Brayard
Licht: Michael Beitz
Produktionsleitung: Björn Grünler
Darsteller: Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Ferdinand Hofer, Yuri Völsch, Oliver Wnuk, Marie Burchard, Jan Bülow, Lea van Acken, Xenia Benevolsenskaya, Stefan Betsch, Katrin Filzen
Doch nichts, gar nichts!
Stattdessen gibt es nicht nur eine Handlung, die auf Tempo, Spannung und Dramatik setzt, visuell ist das Ganze auch noch richtig gut umgesetzt dank einer Kamera, die, man traut es sich kaum zu schreiben, sich agil durch die Szenerie bewegt (ohne dabei auch nur einen Moment hektisch zu wirken). Da stehen keine Ermittelnden in leeren Räumen, schweigen und beklagen dann die Ungerechtigkeit dieser kalten bundesrepublikanischen Gesellschaft. Stattdessen bewegt sich die Story von A nach B nach C - und hin und wieder müssen selbst die beiden inzwischen sehr grau gewordenen Münchener Hauptkommissare ihre alten Knochen durchaus sportlich bewegen. Wann hat man Leitmayr-Darsteller Udo Wachtveitl eigentlich zuletzt über eine Balkonbrüstung in einer oberen Etage klettern sehen?
Ein alter Mercedes fährt über eine Landstraße. Ein Rücklicht ist kaputt, was die junge Polizistin Lena Wagensonner auf den Plan ruft. Ihr Kollege will den Wagen eigentlich weiterfahren lassen. In einer Viertelstunde ist Dienstschluss. Aber Lena ist pflichtbewusst. Der Mercedes stoppt, Lena steigt aus ihrem Dienstfahrzeug aus; ihr Kollege bleibt jedoch zurück, da ein Funkspruch eingeht, den er entgegennehmen muss. Da fallen Schüsse. Lena bricht zusammen, ihr Kollege feuert den flüchtenden Schützen noch hinterher, die jedoch entkommen.
Lena ist schwer verletzt. Unfähig zu reden, die Kugel steckt in der Lunge und flutet diese mit Blut, schreibt sie ein letztes Wort auf den Handschuh einer Krankenschwester. Sie stirbt, doch der Hinweis ist eindeutig: Kol(lege).
Wurde Lena tatsächlich von einem Polizisten erschossen? Der Mercedes wird an einem Baggersee gefunden. Ausgebrannt. Samt einer Leiche im Kofferraum. Der Tote ist offenbar der Besitzer des Fahrzeugs: ein junger Mann, der eine sehr teure Wohnung bewohnt (hat). Eine Wohnung, die er sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Oder vielleicht doch? Seine Schwester weiß selbst nicht wirklich, womit er sein Geld verdient hat. Er hat mal etwas über Bitcoins erzählt. Und er hatte Beziehungen zur professionellen E-Sport-Szene von München. In welcher Art? Das ist die große Frage. Allerdings erinnert sich seine Schwester daran, dass ihr Bruder kurz vor seinem Tod mit zwei Typen gezockt hat, von denen zumindest einer mit Sicherheit ein Polizist gewesen ist. Diese Aussage führt die Ermittler zu einem Counterstrike-Team, das offenbar ausschließlich aus Polizisten besteht. Problem: Ihre Spielernamen sind natürlich allesamt Aliase.
Nach 45 Minuten steht fest: Dieser «Tatort» erzählt wirklich „nur“ die Geschichte eines Mordfalls – frei von pädagogischen Zeigefingern oder einer wichtigen Message.
Ja, dieser Text hält sich mit Vorurteilen gegenüber dem «Tatort» als Serie wirklich nicht zurück. Wie oft aber sind Filme aus der Serie verquaste Sozialstunden für ein pädagogisch wertvoll zu unterhaltendes Publikum? Im März erst strahlte das Erste mit «Hackl» einen Münchener «Tatort» aus, der über sein Sendungsbewusstsein (die Einsamkeit in der Großstadt) zwar sein soziales Thema wie eine Monstranz vor sich herschob, dabei aber Kleinigkeiten wie Spannung oder eine echte Figurenzeichnung vermissen ließ.
In «Game Over» bleiben viele Figurenzeichnungen bleiben Skizzen, doch das ist der Handlung geschuldet, die der Zuschauerschaft zutraut, eine Filmhandlung auch einmal zu verstehen, wenn die Lebensläufe der handelnden Figuren im Dunkeln bleiben. Das Fehlen der Klar-Namen der e-sportlich aktiven Polizisten führt halt dazu, dass viele dieser Namen sich erst im Laufe der Spielzeit ergeben und damit viele Figuren erst spät in die Handlung eingeführt werden. Auch mögliche Motive ergeben sich auf diese Art und Weise erst spät. Was bedeutet: Die Zuschauerschaft erfährt tatsächlich erst ziemlich zum Ende der Spielhandlung, was genau passiert ist.
Gibt es denn tatsächlich keine Momente, in denen mal so etwas wie das Thema Game-Sucht auf den Teller des sonntäglichen Kriminalfilmmenüs gelegt würde? Okay, ein bisschen Klischee-«Tatort» gibt es dann doch. Zumindest für eine Szene. Da ist der junge E-Sportler Oskar, ein Shooting-Star der Szene. Ein junger Mann, dem eine echte Profikarriere zugetraut wird, dessen Spiel brillant ist und der wie kein anderer Skills einzusetzen vermag, die selbst alte Hasen überraschen. Oskar wird von seinem Vater betreut, der das Potenzial seines Sohnes erkannt hat. Was zu einem veritablen Ehestreit zwischen eben diesem Vater und Oskars Mutter führt, hat der Vater Oskar doch heimlich zu einem Turnier angemeldet. Die Mutter, eine Lehrerin, ist der Überzeugung, ihr Sohn verblöde vor der Kiste und er solle sich auf wirklich wichtige Dinge konzentrieren. Da ist er also, der kritische «Tatort»-Moment - der jedoch im nächsten Moment auch schon gebrochen wird. Nicht etwa ihre Sorge, dass ihr Sohn zu viel zockt. Es ist ihr Weltbild, das hinterfragt wird. Ein Weltbild, in dem es okay wäre, würde Oskar seine Freizeit mit Musik, „echtem“ Sport oder einer klassisch bildungsbürgerlichen Kulturtätigkeit verbringen. So ist es die Mutter, deren Denken hinterfragt wird.
Vielleicht sollte der «Tatort» als Spielfilmreihe Drehbuchautor Stefan Holtz des Öfteren mal von der Leine lassen. Dass der Münchener Spannung und Action kann, hat er schließlich durch seine Zusammenarbeit mit Peter Thorwart bewiesen. So hat Holtz nicht nur mit Thorwarth das Drehbuch zu dessen im Ruhrgebiet kultisch verehrtem «Bang Boom Bang» geschrieben: Er hat mit ihm auch das Drehbuch zum Vampir-«Die Hard»-Actionkracher «Blood Red Sky» verfasst, der 2021 Netflix gerockt hat. Und auch Regisseur Lacelot von Naso setzt hier Ausrufezeichen, beweist der doch, dass sich mit einem ganz normalen «Tatort»-Budget Tempo erzeugen lässt.
Fazit: «Game Over» ist das, was man eine Überraschung nennt!
Am Sonntag, 21. Mai 2023, 20.15 Uhr im Ersten
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