Ist der Sexismus im amerikanischen Kino in den letzten Jahren weniger geworden?
Zwei wichtige Ereignisse haben sich auf das Thema Sexismus in der Filmindustrie ausgewirkt; beide werden in «Brainwashed» behandelt. Das erste ist das Engagement, das im Wesentlichen von der Regisseurin Maria Giese ausging. Sie hat die furchtbaren Statistiken zu weiblichen Hollywood-Regisseurinnen an die ACLU herangetragen, die mächtigste Gewerkschaft und Bürgerrechtsorganisation in den Vereinigten Staaten, die von den Zahlen schockiert war. Die US-Regierung hat daraufhin eine sehr ernsthafte Untersuchung zur illegalen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Hollywood-Studios eingeleitet. Sie traten in geheime Vergleichsverhandlungen und das war es, was Hollywood zu verändern begann. Denn den Studios hätten Millionen, teilweise Hunderte von Millionen Dollar an Geldstrafen gedroht, wenn sie nicht angefangen hätten, Frauen einzustellen und ihre illegalen Einstellungspraktiken zu korrigieren. Das war 2015 und löste einen massiven internationalen kulturellen Umbruch aus. Das zweite große Ereignis war dann der Start der MeToo-Bewegung im Jahr 2017, die in vielerlei Hinsicht durch das Engagement von Maria Giese beflügelt wurde und aus ihr hervorging. Beides zusammen hat zu einer Situation geführt, in der wir – endlich – einen Wandel erlebt haben. Aber ich denke, wenn man es auf die Gegenwart übertragen will, sind die beiden großen Filme des aktuellen amerikanischen Kinos «Barbie» und «Oppenheimer», das perfekte Beispiel dafür, dass wir einige Fortschritte gemacht haben, aber gleichzeitig doch nicht viel. «Barbie» zeigt offensichtlich, dass die Welt einen Hunger nach einer feministischen Botschaft verspürt: Wir haben hier einen Blockbuster-Film, der eine sehr starke feministische Botschaft vermittelt und in dem es darum geht, dass Frauen die patriarchalische Unterdrückung leid sind. Gleichzeitig gibt es den Film «Oppenheimer», der ausschließlich mit männlichen Darstellern besetzt ist; es gibt lediglich zwei weibliche Figuren, und die meiste Zeit sind sie nackt. Das zeigt: Ja, wir haben uns weiterentwickelt, aber gleichzeitig: nicht so sehr.
Wie bewerten Sie «Barbie» im Hinblick auf Ihren Dokumentarfilm «Brainwashed»?>
Wenn man es aus der Perspektive des Films «Brainwashed» betrachtet: Greta Gerwig verwendet für ihre weiblichen Charaktere definitiv keine Aufnahmen im Stil des ‚männlichen Blicks‘. Wir sehen keine Nahaufnahmen von weiblichen Hintern, wir sehen nicht, wie die Kamera über die Körper nackter Frauen schwenkt, es werden im Gegenteil überhaupt keine nackten Frauen gezeigt. Das ist also ziemlich besonders. Was den Inhalt anbelangt, so haben viele Leute darüber gesprochen, und man kann ihn auf viele verschiedene Arten analysieren. Aber egal, wie man dazu steht, es ist ein groß angelegter Hollywood-Blockbuster, der auch noch ein riesiges Werbebudget hatte, und der eine feministische Botschaft präsentiert, in der die Frauen Subjekte sind und über die Probleme des Frauseins sprechen. Ob man nun jeden Moment liebt oder nicht – ob man nun denkt, dass es zu einfach und/oder zu kapitalistisch ist: Es gibt verschiedene Beschwerden, die man über diesen Film vorbringen kann, aber Tatsache ist, dass es eine drastische Abkehr von den üblichen Macho-Blockbustern ist, die wir bis jetzt gesehen haben. Und ich würde sagen, es ist eine sehr willkommene Abwechslung.
Sie skizzieren das Problem des Sexismus als Dreieck: Bildsprache des Films - Diskriminierung am Arbeitsplatz (Filmset) und Missbrauch/Übergriffe vor Ort. Wie können wir dieses Dreieck beenden?
Je mehr Bewusstsein, je mehr Licht auf das Problem geworfen wird, desto mehr Veränderungen werden wir sehen. Und wir haben bereits Veränderungen gesehen: Seit den Aktionen gegen die Hollywood Studios im Jahr 2015 und der MeToo-Bewegung, seit so viele Menschen über ihre Erfahrungen gesprochen haben, hat sich das kulturelle Bewusstsein verändert. Und gerade jetzt sehen wir wieder einen Wandel, weil die Gewerkschaftsbewegung, die sich jetzt in den Vereinigten Staaten gebildet hat, die enorme Ungerechtigkeit und Ungleichheit für Arbeiter*innen gegenüber den sehr reichen und ausbeuterischen Unternehmen aufgezeigt hat. Von den Leuten an der Spitze, die in diesen Unternehmen arbeiten und die wirklich die Gewinne einstreichen, sind etwa 90% weiße Männer. Ich glaube also, dass all dieses Bewusstsein eine Veränderung bewirkt. Wenn den Menschen etwas nicht bewusst ist, wird es einfach liegen bleiben und sich nicht bewegen. Aber wenn es einen weltweiten Bewusstseinswandel gibt, dann kann das etwas bewirken. Natürlich sind wir noch nicht ganz so weit, es ist noch eine Menge Arbeit nötig. Aber wenn man zum Beispiel ein paar Jahre zurückgeht, sagen wir fünf Jahre, und nach Cannes blickt, gab es zu dem Zeitpunkt nur drei Regisseurinnen im Wettbewerb. Und wenn man zehn Jahre zurückgeht, oder nur sieben Jahre, waren es, glaube ich, zu 100% Männer. Aber jetzt, in diesem Jahr, wäre das peinlich, die Verantwortlichen würden sich zu Tode schämen, wenn sie einen reinen Männerwettbewerb hätten, sie würden es nicht tun. Das zeigt also, dass einige Verantwortliche endlich zugehört haben. Sie sind betroffen. Sie können nicht einfach so weitermachen, wie bisher, obwohl man sich bei Filmen wie «Oppenheimer» manchmal etwas zurückversetzt fühlt...
Der Fall Harvey Weinstein hat der Öffentlichkeit das Ausmaß von Sexismus und Übergriffen vor Augen geführt. Kann dies als eine Art Wendepunkt betrachtet werden?
Auf jeden Fall! Der erste Wendepunkt war natürlich, wie anfangs erwähnt, Maria Giese im Jahr 2015. Diese Beschäftigungsaktion hat in vielerlei Hinsicht den Grundstein für die MeToo-Bewegung gelegt. Aber ja, die Weinstein-Geschichte war gewaltig und hat die Art und Weise verändert, wie die Leute am Set handeln. Ich glaube, viele Leute sind jetzt ein bisschen verlegen, wissen Sie? Vorher gab es einfach einen Freifahrtschein. Es war normal und wurde erwartet, dass fast jede junge Schauspielerin, die einen Drehort betrat, Sex mit dem Produzenten und vielleicht auch dem Regisseur haben musste, wenn sie ihren Job behalten wollte. Aber das hat sich jetzt geändert.
Zahlreiche Filmemacher sagten, Weinsteins Verhalten sei seit Jahren ein offenes Geheimnis gewesen. Das ist ein großes Problem, oder nicht?
Ich muss noch einmal betonen, wie sehr Maria Giese und die MeToo-Bewegung einen Wandel bewirkt haben. Plötzlich gab es ein Bewusstsein für die Tatsache, dass Produzenten, Regisseure und Menschen am Filmset im Allgemeinen zu 95% weiße Männer waren und dass viele dieser Menschen ihre Macht missbraucht haben. So lange hatte man sich mit einer Situation abgefunden, die nicht nur schrecklich, sondern auch völlig illegal ist. Es war ein Schock, dass es endlich laut und öffentlich ausgesprochen wurde. Denn mit all dem kam die Schlussfolgerung, dass man als Schauspielerin natürlich mit Harvey Weinstein hätte schlafen müssen, um seinen Job zu behalten, aber er war nur einer von vielen. Er wurde zum Aushängeschild für sexuellen Missbrauch/Übergriffe, aber natürlich haben Tausende anderer Männer genau das Gleiche getan. Das ist ein großes Problem, aber die Beschäftigungsmaßnahmen gegen die Studios, die MeToo-Bewegung und die Tatsache, dass viele große Namen sich endlich geäußert haben, um zu sagen: "Das ist mir passiert", haben eine Veränderung bewirkt. Als es erst einmal an die Öffentlichkeit kam, konnte es nie wieder so sein wie vorher – und da kommen wir wieder auf meinen Punkt von vorhin zurück: Sobald man etwas beleuchtet, ändert es sich, es kann nicht mehr weitergehen. Jetzt weiß es jeder, und die Leute reden darüber, in der Öffentlichkeit, in den sozialen Medien, vor Gericht, also kann diese Routine nicht mehr so weitergehen wie früher, und das ist natürlich großartig. Besser spät als nie.
Wie ist eigentlich die Aussage von Rose McGowan zu bewerten, die Weinstein öffentlich beschuldigt, aber letztlich keine Beweise vorgelegt hat? Das Gericht wies ihre Klage später ab, und McGowan hat seitdem kein Projekt mehr angenommen.
Ich kann nichts über diesen speziellen Fall sagen, weil ich ihn nicht genau verfolgt habe. Ich kenne einfach nicht alle Details. Was ich über die Frauen sagen kann, die über ihre Erfahrungen gesprochen haben, ist, dass es sehr, sehr beängstigend und sehr, sehr unangenehm ist, sich einem mächtigen Mann oder einer mächtigen Organisation zu stellen. Man begibt sich in eine Situation, in der man angegriffen wird, in der man ausgelacht wird und in der versucht wird, den eigenen Ruf auf jede erdenkliche Weise zu zerstören. Die Frauen, die sich getraut haben, etwas zu sagen, sollten also wirklich Zuspruch für ihren Mut erhalten.
Wird im Kino zu viel Wert auf gutes Aussehen gelegt? Es gibt Schauspieler, die nicht objektiv gutaussehend sind, und denen dennoch gute Rollen angeboten werden.
Es ist sehr wichtig, zu betonen, dass gerade männliche Schauspieler nicht klassisch gut aussehen müssen, klassisch bedeutet: groß und perfekt. Dafür gibt es so viele Beispiele, von Jack Nicholson über Al Pacino bis hin zu vielen anderen. Sogar ältere Männer wie Clint Eastwood, obwohl er früher eher klassisch gutaussehend war, schauspielern immer noch in ihren Neunzigern und viele Leute finden das wirklich sexy und aufregend. Harrison Ford wurde mit 80 Jahren als der neue, sexy Star von «Captain America» bezeichnet. Perfekt schön und nie älter als 40 zu sein, um als aufregende, heiße Schauspielerin zu gelten, das ist in erster Linie ein Anspruch an Frauen.
Brauchen wir überhaupt schöne Menschen in Film und Fernsehen, wenn das Drehbuch gut ist?
Das ist einer der wichtigen Punkte, die ich mit «Brainwashed» ansprechen wollte. Generell kann man sagen, dass Männer von Geburt an und durch die Art und Weise, wie sie erzogen werden, lernen, sich als Subjekt zu sehen, als vollwertiges menschliches Subjekt. Und dieses Subjekt besteht aus vielen Aspekten, sie können gut aussehen - oder auch nicht -, sie können reich sein, sie können talentiert sein oder lustig oder seltsam oder mächtig, sie können vieles sein. All diese Elemente wirken zusammen, das Aussehen der Männer ist nur ein Teil der gesamten männlichen Person. Aber Frauen, die systematisch in die Objektposition gedrängt wurden, existieren im Allgemeinen und hauptsächlich in Bezug auf ein Subjekt, das das Objekt betrachtet/benutzt/beurteilt. Frauen haben dies verinnerlicht und ihr/unser Leben mit der Vorstellung gelebt, dass es zwar in Ordnung ist, eine mächtige, tolle, interessante Person zu sein – aber am wichtigsten, um im Leben auf mehreren Ebenen voranzukommen, ist es, schön zu sein. Selbst um geliebt zu werden, muss man schön sein. Deshalb werden Make-up und plastische Chirurgie im Wert von Milliarden Dollar erfolgreich an Frauen verkauft – Männer kaufen nur einen kleinen Teil dieser Produkte und Dienstleistungen.
In «Brainwashed» sprechen Sie auch die Kameraführung an, die sich auf Gesäß-Ebene anschleicht. Ist dieses Stilmittel für das Kino suboptimal?
Nun, mein persönlicher Ansatz ist es, den Leuten nicht zu sagen, was sie tun sollen. Ich bin nicht gerne die Polizei, die einem sagt, wie man einen Film machen soll. Was ich mir von den Leuten wünsche, ist, dass sie sich „Brainwashed“ ansehen und darüber nachdenken, wie geschlechterspezifisch Filmaufnahmen gestaltet wurden und werden, wie männliche und weibliche Schauspieler unterschiedlich aufgenommen wurden, und dann entscheiden, ob sie weiterhin auf diese Weise Filme machen wollen oder nicht. Es steht mir nicht zu, Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihren Film drehen sollen, schauen Sie einfach genau hin und entscheiden Sie dann. Was ich fordere, ist Bewusstsein und Bewusstheit. Und was die Leute dann mit diesem Bewusstsein für die geschlechtsspezifische Gestaltung von Aufnahmen machen, ist ihre Sache.
Sie haben beobachtet, dass vor allem weiße Männer bei der Arbeit am Set unter sich bleiben wollen und andere weiße Männer beschäftigen. Wieso ist das so?
Um ehrlich zu sein, denke ich, dass das fast eine „natürliche“ Reaktion ist. Wenn man an Filmsets, sogar an hunderten von Filmsets war, und immer nur einen Haufen weißer Männer gesehen hat, und man auch ein weißer Mann ist, dann wird man, wenn man jemanden einstellt, tendenziell einfach das Gleiche tun. Es braucht wirklich eine starke Person, einen starken Verstand, um zu sagen: „Moment mal, hier stimmt etwas nicht“. Und natürlich sind die Leute, denen das auffällt, die, die bisher immer ausgeschlossen wurden. Die weißen Männer merken es normalerweise nicht, aber wir anderen merken es.
Warum wurden die Frauen zu Objekten degradiert? Sie sprechen in Ihrem Dokumentarfilm an, dass sie keine Sprechrollen bekamen.
Ich weiß nicht, ob wir jemals den genauen Ausgangspunkt erfahren werden, aber wenn man zum Beispiel die Geschichte der Malerei betrachtet und einmal durch den Louvre läuft, wird man eine Menge nackter Frauen an den Wänden sehen, und die meisten dieser Gemälde wurden von weißen, heterosexuellen Männern gemalt. Dieses Problem gab es also schon lange vor dem Kino, es ist die Idee des berühmten Satzes „Was Frauen begehren, ist, begehrt zu werden“. Dieses ganze verrückte Konzept begleitet uns schon sehr lange und es ist sehr, sehr schwer, sich davon zu befreien.
arte strahlt «Brainwashed - Sexismus im Kino» Montag, 4. Septembern um 22:10 Uhr aus.
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