«Die Heiland» hat eine bewegende Geschichte, denn Ihre damalige Hauptdarstellerin ist 2019 im Urlaub verstorben. Wie kann man unter diesen Umständen eine Serie fortsetzen?
Lisa Martinek hatte sich die Rolle der blinden Anwältin Romy Heiland perfekt zu eigen gemacht, sie war für «Die Heiland» ein Glücksfall. Nach drei Jahren Entwicklungszeit und einer langen und intensiven Suche nach einer geeigneten Hauptdarstellerin waren Lisa Martinek und Romy Heiland für uns untrennbar miteinander verbunden, quasi ein Synonym. Ihr plötzlicher Tod, einen Monat vor Beginn der Dreharbeiten zur zweiten Staffel, war für alle ein Schock. Der Gedanke, die Serie trotz dieser tragischen Situation fortzusetzen, entstand in Gesprächen mit den Betroffenen, im Besonderen mit Lisa Martineks Ehemann Giulio Ricciarelli, er war fest davon überzeugt, dass Lisa gewollt hätte, dass wir weitermachen und die Serie fortbesteht. Lisa liebte diese Rolle und war sich ihrer besonderen Mission bewusst. Auch Pamela Pabst, auf deren Geschichte einer blinden Strafverteidigerin die Serie beruht und die eng mit Lisa verbunden war, hatte sofort eine Meinung. Für sie stand außer Frage, dass «Die Heiland» fortgesetzt werden muss, sie erinnerte uns daran, dass es keine vergleichbare weibliche, berufstätige Hauptfigur im deutschen Fernsehen gibt. Und damit hat sie bis heute Recht behalten.
«Die Heiland» startete ja mit weiteren Komplikationen. Nachdem Christina Athenstädt die Hauptrolle übernommen hatte, kam die Corona-Pandemie. War die Produktion der vierten Staffel nun unkomplizierter?
Die Corona-Pandemie erschwerte die Produktion der dritten Staffel insofern, als dass alle Produktionsbeteiligten die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards gemäß den Empfehlungen für Filmproduktionen der BG ETEM, mit Maskenpflicht am Set und regelmäßigen Testungen, usw. befolgt haben. Das bedeutet für einen ohnehin schon anstrengenden Drehtag eine zusätzliche Belastung, wie man sich vorstellen kann. Wir hatten großes Glück und dank der enormen Disziplin aller Beteiligten, Darsteller:innen und Stab, konnte die dritte Staffel ohne Unterbrechungen produziert werden. Letztlich kam es dann aber in der aktuellen, der vierten Staffel, zu kleineren Verzögerungen aufgrund von Corona-Fällen in Cast und Stab, trotz der weitergeführten Hygienemaßnahmen, die ich für sehr sinnvoll halte und für die ich im Nachhinein immer noch sehr dankbar bin. Es ist klar, dass ohne diese, eine derart reibungslose Produktion nicht möglich gewesen wäre.
Die ARD macht viel, dass inklusives Fernsehen entsteht. Bei der «Heiland» steht eine blinde Anwältin im Vordergrund, bei den «In aller Freundschaft»-Serien Menschen mit Geh- oder Hör-Behinderung. Warum ist das Ihnen so wichtig? Oder führt das zu bestimmten Unique-Selling-Points?
Die Entstehungsgeschichte von Projekten ist sehr unterschiedlich, jede Stoffentwicklung hat letztlich eine spezifische Genese und einen eigenen Ausgangspunkt für die Entwicklung. Strategisches Denken in der frühen Phase der Stoffentwicklung halte ich für hinderlich, ich setze immer auf ein starkes Konzept. Das entstand für «Die Heiland» durch die gemeinsame Entwicklung mit den Produzentinnen Viola Jäger und Alicia Remirez von Olga Film, die ursprünglich, inspiriert durch die Autobiographie von Pamela Pabst, "Ich sehe das, was ihr nicht seht", mit einem Vorschlag für einen Zweiteiler zu uns in die Filmredaktion des rbb kamen. Bereits in dem ersten Papier waren Romy Heiland als Anwältin mit ihrer Assistentin Ada Holländer als besondere außergewöhnliche Figuren angelegt. Die Idee für eine Anwaltsserie auf dem Sendeplatz Dienstagabend entstand aus dem Bedürfnis heraus, diesem interessanten Figuren-Duo mehr Erzählfläche und Raum zu geben. Die Entwicklungen der letzten Staffeln haben gezeigt, es gibt immer noch viel zu erzählen.
Recht elegant haben Sie in der dritten Staffel die Assistentin von Romy Heiland ausgetauscht. Sind solche smarten Übergänge das, was man sich aus Produzenten-Sicht gerne wünscht?
Das Ausscheiden der Figur Ada Holländer, gespielt von der wunderbaren Anna Fischer, nach sechs Folgen der dritten Staffel erfolgte aus dem Wunsch der Schauspielerin, die Serie zu verlassen. Da das Konzept im Kern auf einem Figurenduo basiert – die blinde Hauptfigur ist in ihrem Berufsalltag auf die Hilfe einer weiteren Person angewiesen, die ihr assistiert – stellte sich die Herausforderung, eine neue, zweite Hauptfigur zu entwickeln, zu besetzen und in einem Konstellations-Casting zu testen. Es freut mich, dass die Zuschauer durchweg so positiv auf die Figur Tilly Vogel, die wir als Cousine von Ada und Ringo Holländer erzählen, reagiert haben und sie so gut im Ensemble funktioniert. Letztlich haben wir den Serienkosmos um die Familie Vogel erweitert. Es ist immer wieder eine Herausforderung für die Produzent:innen und die Redaktion, auf die sich ändernden Rahmenbedingen zu reagieren und sie als eine Chance für Veränderung und Innovation bei einer lang laufenden Serie zu begreifen.
Rund 4,8 Millionen Menschen verfolgten die dritte Staffel im linearen Fernsehen. Wieso halten sich die Serien vom Ersten auf einem solch hohen Niveau, obwohl man meinen könnte, die Menschen schauen nur noch Streaming?
Es ist richtig, am Dienstagabend erreichen wir im linearen Fernsehen nach wie vor in allen Altersgruppen beachtliche Zuschauerzahlen. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist aus meiner Sicht, dass der Sendeplatz Dienstag 20.15 Uhr ein klares Profil hat. Ähnlich wie der «Tatort» bzw. «Polizeiruf 110» am Sonntag, wissen die Zuschauer ziemlich genau, was sie im Sinne des Genres, der Tonalität und Erzählweisen, trotz des breiten Portfolios und der Unterschiedlichkeit der Serien auf diesem Sendeplatz erwarten können. Wir versuchen im Mantel der eskapistischen Erzählverabredung bei gleichzeitiger inhaltlicher Relevanz die ganze Familie zu adressieren und zu unterhalten. Wir haben ein großes Stammpublikum, das es offenbar schätzt, ritualisiert und zu festen Zeiten fernzusehen – allein, in der Gruppe oder in der Familie –, um dann am nächsten Tag über die Geschichten sprechen zu können.
Haben Sie externe Berater von Blindenvertretungen, die Ihnen gezeigt haben, wie man am besten eine blinde Anwältin verkörpert?
Hier ist natürlich Pamela Pabst selbst zu nennen, die hinsichtlich der Frage, was Blindheit/Sehbehinderung im Alltag, privat und beruflich, bedeutet, eine große Rolle gespielt hat und nach wie vor spielt. Sie berät uns auch juristisch, sie liest jedes Drehbuch. Zur ersten Staffel hat uns zudem Stefanie Wölwer vom Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-verband wertvolle Hinweise gegeben; zu Fragen von Behinderungen im Alltag und ihrer medialen Rezeption haben wir bei Staffel eins und zwei mit dem Aktivisten Raul Krauthausen zusammengearbeitet. Für das Schauspiel-Coaching unserer Hauptfigur standen in der ersten und zweiten Staffel der Blinden-Coach Michael Schütze zur Verfügung, der sowohl Lisa als auch Christina in der Bewältigung des Alltags mit Sehbehinderung und im Umgang mit dem Blindenstock im Vorfeld des jeweiligen Drehs geschult hat.
In der vierten Staffel stellt Romy Heiland schnell klar, dass sie Staatsanwältin Odette Santos nicht trauen kann. Woran merkt sie das?
Mit Odette Santos führen wir eine neue Figur im beruflichen Kosmos von Romy Heiland ein, die antagonistisch funktionieren soll. Die Staatsanwältin ist eine äußerst ambivalente Frauenfigur, die professionell korrekt und integer agiert, privat Romy aber nicht schont und ihr erklärtermaßen auch keinen „Blinden-Bonus“ gibt. Im Gegenteil: Odette hat Spaß am Wettbewerb und an der Konkurrenz. Sie testet Romy Heiland privat als Frau und beruflich in ihren Fähigkeiten als Juristin: Ist sie als blinde Anwältin so gut wie die anderen, spielt die Blindheit wirklich keine Rolle, wie Romy immer behauptet?
Romys Eltern trennen sich in den neuen Folgen. Paul Heiland sucht sich eine junge Lebensgefährtin. Ist das nicht ein wenig klischeehaft?
Natürlich ist das ein Klischee, älterer Mann verlässt seine Ehefrau für eine deutlich jüngere Frau. Der Fokus der Erzählung liegt nicht auf dieser Beziehung. Die Frau, mit der Paul Heiland zusammenlebt, erzählen wir fast ausschließlich im Off. Paul geht es gut; das fanden wir erzählerisch aber weniger interessant zu beleuchten, deshalb gibt es die verkürzte Erzählung über das Klischee, weil nur bekannte Muster aus dem realen Leben überhaupt zu einem Klischee werden können. Es geht in der Geschichte um Romys Mutter, Karin Heiland, die von ihrem Mann verlassen wurde, um die Frage, wie sie mit der neuen Situation umgeht, jetzt wo Romy ihre Unterstützung im Alltag nicht mehr braucht, und was sie daraus macht. Karin entscheidet sich, beruflich noch einmal durchzustarten und fängt als Büroleiterin in der Kanzlei von Ben Ritter an. Es braucht Mut und Selbstbewusstsein, nach einer so langen Pause wieder ins Arbeitsleben einzusteigen. Karin nimmt diese Herausforderung an, sie nimmt ihr Leben in die Hand und begreift den neuen Lebensabschnitt als Chance.
Sie zeigen Berlin von einer anderen Seite. Welche Motive stellen Sie gerne in den Vordergrund?
«Die Heiland» ist auch eine Berlin-Serie. Die Geschichten, die Biografien der Figuren und die Handlungsorte sind immer konkret in einem der vielen Berliner Kieze verortet. Bereits bei der Findung der Fälle und Mandate, in denen es auch darum geht, unterschiedliche Milieus zu zeigen, orientieren wir uns quasi mental am Berliner Stadtplan und überlegen, welche Orte wir noch nicht erzählerisch bespielt haben. In der Umsetzung sieht man entsprechend Orte aus der zweiten und dritten Reihe, die von den bekannten populären Schauplätzen der Innenstadt abweichen. Wir wissen immer sehr genau, wo die Figuren unterwegs sind, in Lichtenberg, in Spandau oder in Kreuzberg. So zeigen wir in der vierten Staffel ein Unternehmen, einen Berliner Limousinenservice, das im Berliner Westhafen angesiedelt ist, aber auch einen Stadtschäfer, der seine Schafe im Schlosspark Charlottenburg hält, mitten in der Stadt. Berlin ist eine sehr dynamische Stadt mit starken Kontrasten, das versuchen wir in der Serie auch zu zeigen.
Das klingt interessant!
«Die Heiland» ist ab Dienstag, 29. August, im Ersten zu sehen.
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