Die Kritiker

«Polizeiruf 110: Little Boxes»: Keine einzige Klischeevorstellung wird ausgelassen

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Ein Mann liegt tot im Hof eines universitären Institutes. Nackt. Auf seinem Rücken steht: Rapist. Mit der Polizei reden will hier niemand, denn die Polizei repräsentiert White Privilege, institutionalisierten Rassismus und normative Geschlechtervorstellungen, die alle ausschließen, die nicht in diese restriktiven Kategorien passen.

Polizeiruf 110: Little Boxes

DARSTELLER: Johanna Wokalek, Stephan Zimmer, Bless Amada, Christiane von Poelnitz, Matthias Bundschuh, Canan Samadie, Victoire Laly, Lise Risom Olsen
MUSIK: Dror Zahavi, Fritz Busse
BUCH: Stefan Weigl
KAMERA: Gerhard Schirlo
REGIE: Dror Zahavi
Dror Zahavi wird nach diesem «Polizeiruf 110» definitiv nie wieder einen «Tatort» drehen dürfen. Zumindest nicht im Auftrag von Sendern, die Kultursensibilität großschreiben und Warnhinweise vor alte Shows von Otto Waalkes oder «Schimanski»-Krimis setzen. «Polizeiruf 110: Little Boxes» ist eine Groteske aus der Mitte der Gesellschaft, ein Film, der einen Kriminalfall dazu nutzt, zwei Welten aufeinanderprallen zu lassen. Aber in einer Konstellation, die so eher ungewöhnlich ist auf einem Sendeplatz, der normalerweise dafür genutzt wird, einem sozial relevanten Thema durch einen feschen Mord Aufmerksamkeit zu verleihen, um schuldbewusst die Benachteiligten der Gesellschaft einmal aus dem bürgerlichen Ohrensessel heraus bedauern zu dürfen. Der «Tatort» ist eben kein einfacher Krimi. Der «Tatort» ist immer auch ein bisschen eine sozialpädagogische Bildungseinrichtung.

Allerdings ist dies kein «Tatort», dies ist ein «Polizeiruf 110», der halt zufällig auf dem gleichen Sendeplatz läuft und sich, vorsichtig ausgedrückt, einen feuchten Kehricht darum kümmert, was politisch korrekt ist. Welche Sprache korrekt ist.

Was gesagt werden darf und was nicht.
Eigentlich ist der Begriff „feuchter Kehricht“ für diesen Film viel zu harmlos. „Einen Scheiß“, das wäre eigentlich die korrekte Begrifflichkeit.

Die Feststellung, dass der von Stefan Weigl geschriebene Film den universitären Betrieb, der als Schauplatz dient, auf eine lächerliche Art und Weise präsentiert, ist keineswegs unzutreffend. Das Drehbuch wirkt nicht selten, als habe Weigl einfach mit Freunden abends, bei einem Glas Weizenbier, darüber sinniert, welche Klischeevorstellungen in deren Köpfen umherschwirren, wenn sie an Genderstudiengänge denken.
• Da gibt es die Professorin, die sich Profssx nennt, weil sie die Geschlechtervorstellungen der Gesellschaft verabscheut.
• Da ist die Geichstellungsbeauftragte, die den Job nur bekommen hat, weil sie dann eben doch eine Frau ist.
• Man spricht mit Gender-Gap
• Jede Person, die nicht ein alter, weißer Mann ist, ist ein Opfer – und zwar jede Person!
• Man ist auch ein Opfer von rassistischer Unterdrückung und Sexismus, wenn man sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin (mit einem Gehalt knapp über Bürgergeld) eine Luxusvilla am See und einen Anwalt leisten kann, der 6000 Euro die Stunde nimmt – nur weil die Eltern stinkend reich sind, ist man trotzdem ein Opfer, wenn man sich als solches identifiziert!

Und so weiter. «Polizeiruf 110: Little Boxes» lässt keine, aber wirklich keine einzige Klischeevorstellung aus. Die oben genannten Figuren tauchen alle in diesem Film auf und sind exakt jene exaltierten Individuen, die in ihrer selbstgefälligen, selbstbesoffenen Selbstdarstellung und einem großen Strauß weiterer anmaßender Attitüde das verkörpern, was man sich unter abgehobenen Elfenbeinturmbewohnern so vorstellt. Die Darstellung dieses Umfeldes wird nicht mit einem feinen Stift gezeichnet. Weigl nutzt vielmehr den Vorschlaghammer, um ein Klischee nach dem anderen zu präsentieren. Doch bevor es zu Missverständnissen kommt: «Polizeiruf 110: Litlle Boxes» macht über weite Strecken schon Spaß. Und hinter der Aneinanderreihung von wenig fein gezeichneten Klischeebildern, verbirgt sich eine äußerst pointierte und schonungslose Kritik an den dysfunktionalen Strukturen des universitären Bildungswesens, das in Teilen von seinem ursprünglichen Zweck, der Freiheit der Lehre, abgewichen ist und diese Freiheit der Lehre nicht selten zu einer Worthülse verkommen lässt, wenn eine Ansicht vom akzeptierten Meinungskosmos abweicht.

Der Mann, der dort tot liegt, war ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Postcolonial Studies. Für Cris Blohm (Johanna Wokalek) ist dies der erste Fall in München. Sie hat einige Zeit im Ausland gearbeitet (wo, das wird in diesem Film nicht erwähnt). Sie ist eine Idealistin, die man als Menschen eher in einem bürgerlich-linken Milieu verorten würde – und die plötzlich damit konfrontiert wird, dass sie der Feind ist. Und der Begriff Feind ist keinesfalls überhöht. Nein, man redet nicht mit Cops, denn die sind alle Bastarde. Selbst das Mordopfer hat schließlich einen ACAB-Aufkleber auf seinem Rechner kleben gehabt. Als Polizeibeamtin – und schlimmer noch, als Frau, die doch selbst aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt wird, macht sie sich zur Komplizin einer Ordnung der systematischen Unterdrückung aller Minderheiten. Es gibt die weißen Männer und die Opfer. Gut, es gibt auch weiße Frauen, die sich den Tätern andienen. So wie auch Polizisten wie Otto Ikwuakwu existieren, Blohms für diesen Fall zugewiesener Partner, der selbst aus Nigeria stammt – und der statt als Opfer zu agieren eine Polizeimarke trägt und dem Schweinesystem dient.

Cris Blohm zumindest ist irritiert. Schon einfachste Nachfragen - „kannten Sie den Toten“, werden direkt verbal aggressiv angegangen. Und das von allen Seiten. Von den Studentinnen, weil der Tote eh ein Mann und ein Schwein war. Von der Profssx und anderen Würdenträgssx (?), weil die aggressive Befragung der Polizei den Schutzraum Uni beschädigt. Warum der Tote ein Schwein war? Das steht ja auf seinem Rücken. Rapist – Vergewaltiger. Er soll eine Kommilitonin vergewaltigt haben. Gut, niemand weiß, wen er vergewaltigt haben soll. Es ist nie zu einer Anzeige gekommen. Aber das ist der Tatsache geschuldet, dass die meisten Vergewaltiger selbst dann, wenn ihre Schuld bewiesen ist, mit einem blauen Auge davonkommen. Diese Thematik behandelt die Inszenierung übrigens mit der ihr gebotenen Ernsthaftigkeit. Im Fall des Toten bedeutete das Gerücht allerdings Ächtung, denn der Vorwurf musste echt sein, weil er ein Mann war. Ermittlungen? Unschuldsvermutung? Nicht in diesen Kreisen.

Das Milieu, in dem die Geschichte angesiedelt ist, sieht sich selbst als ein Milieu, das denen eine Stimme geben will, die in dieser Welt keine Stimmen haben, weil die Strukturen so geformt sind, dass ihre Stimmen nicht gehört werden. Doch ist es kein Widerspruch, wenn sich eine Profssx, staatlich alimentiert, als Kämpferin gegen Strukturen eines Systems aufspielt, das sie nicht nur bezahlt, sondern ihrerseits mit Macht ausstattet? Der Macht beispielsweise Stellen besetzen zu können - oder Bewerbungen abzulehnen, wobei sie ihre Ablehnung nicht begründen muss? Bringt sie nicht gleichzeitig die, die sie in ihren Arbeitskreis aufnimmt, in prekäre Abhängigkeitsverhältnisse, wenn diese etwa damit rechnen müssen, dass abweichende Ansichten möglicherweise zu Nicht-Verlängerungen ihrer Arbeitsverhältnisse münden können? Vor allem dann, wenn die Profssx als, wie man sagt, meinungsstark gilt, was nicht selten dem Begriff „selbstherrlich“ einen freundlichen Anstrich verleiht?

Als Kriminalfilm mag dieser Polizeiruf etwas schwach auf der Brust sein. Der Fall geht manchmal ein wenig unter. Dafür sind die Figuren einfach herrlich in ihrer Arroganz. Das tiefe Vertrauen der universitären Eliten auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, macht eine Reflexion der eigenen Standpunkte für sie überflüssig. Die eigene Überlegenheit erhebt sich zum allgemeinen Dogma, jegliche Anzeichen von Zweifel oder Kritik werden nicht nur verdrängt, sondern als ein Angriff auf die Wahrheit mit einem Gegenangriff pariert. Blind für die Vielschichtigkeit der Realität, sind die handelnden Figuren letztlich selbst Gefangene in einer Blase der Selbstgerechtigkeit.

Es wird spannend, die Reaktionen auf den Kriminalfilm in einer Blase wie die der Twitterwelt zu beobachten, wo unerbittliche Meinungsmonolithe aufeinandertreffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Polizeiruf von einer Seite Applaus bekommt, die für gewöhnlich beim Gedanken an öffentlich-rechtliches Sonntagabendfernsehen im Ersten eine gewisse Schnappatmung nicht unterdrücken kann: Ein Milieu, das auf der Smartphonetastatur eine eigene Taste für den Begriff Systemmedien eingerichtet hat. So herzlich brachial, wie dieser Film die Welt der Political Correctness, Entschuldigung, der Postcolonial Studies (und der mit ihnen verwandten Genderstudien) angeht, ist dies nicht ausgeschlossen. Obschon sich Verwender einer Begrifflichkeit wie Systemmedien an ihren Nüsschen verschlucken dürften ob der gelebten Diversität dieses Kriminalfilmes, die seltsamerweise überall jenseits der akademischen Filterblase in diesem Film ganz anständig funktioniert, wenngleich nicht auf allen Ebenen. Diese Ebene der Dysfunktionalität betrifft einen Handlungsstrang bezüglich der Figur des Otto Ikwuakwu. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass dieser Handlungsstrang frei ist von jeglicher satirischer Darstellung. Hier, wo die Welt des Filmes die Realität jenseits der Meinungsblasen trifft, gibt sich die Inszenierung zurückhaltend und dem Ernst der Geschichte angemessen.

Während Satire in der Regel dazu tendiert, die Mächtigen und Einflussreichen in Politik und Wirtschaft zu karikieren, um soziale Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch zu beleuchten, belegt «Polizeiruf 110: Little Boxes», dass es wichtig ist, diese Regel nicht als Dogma zu betrachten. Satire dient eben auch dazu, generell Gewohnheiten und Ideen der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteure zu reflektieren und gegebenenfalls in einer künstlerischen Interpretation durch die Darstellung grotesker Situationen zu hinterfragen. Ob dies unbedingt in einem Kriminalfilm geschehen muss? Im «Tatort» werden 40 Mal im Jahr gesellschaftlich relevante Themen im Rahmen von Kriminalgeschichten durchgespielt. Der große Unterschied: Bei SWR oder dem RBB wäre die Handlung dieses Spielfilmes knochentrocken erzählt worden – mit einer großen Sympathie für genau jene Handelnden, die in diesem Nicht-«Tatort», sondern «Polizeiruf 110» nicht unbedingt mit Sympathiepunkten bedacht werden.
Wetten, das?

Am Sonntag, 17.September, 20.15 Uhr, Das Erste

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