Während die Nachrichten 2020 und 2021 von der Covid-Pandemie beherrscht wurden, dominierten im Jahr 2022 der Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen – insbesondere im Energiesektor – das Nachrichtengeschehen. Der Ukraine-Krieg hatte und hat zweifelsfrei höchst weitreichende menschliche, politische und sozioökonomische Auswirkungen in zahlreichen Bereichen. Im Jahr 2022 ereigneten sich allerdings auch eine Reihe von humanitären Krisen und Katastrophen im Globalen Süden, die nur auf sehr geringes mediales Interesse stießen.
In den führenden Nachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde diesen Ereignissen in der Regel nur wenig oder teilweise sogar keine Aufmerksamkeit gewidmet. Die geografische Verteilung der Beiträge zeigt, dass der Globale Norden die Nachrichten und auch die Topthemen dominierte. In der Tat entfielen im Jahr 2022 in der deutschen und Schweizer «Tagesschau» etwa nur 10,8 bzw. 10,5 Prozent der Sendezeit auf den Globalen Süden, in der «Zeit im Bild 1» waren es 8,9 Prozent – bei den Topthemen waren es sogar jeweils nur um die 5 Prozent der Sendezeit.
Besonders eklatant zeigt sich die Vernachlässigung des Globalen Südens am Beispiel des Bürgerkriegs in Tigray (Äthiopien). Schätzungen zufolge starben in dem Konflikt zwischen der äthiopischen Zentralregierung und Separatisten bis zu 600.000 Menschen. Damit handelt es sich um den tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts. In den sogenannten Leitmedien wie auch den Hauptnachrichten wurde er aber fast vollständig ausgeklammert.
Während zum Beispiel die «SRF Tagesschau» 2022 in etwa 113.315 Sekunden Sendezeit über den Ukraine-Krieg berichtete, widmete sie dem Krieg in Äthiopien im gesamten Jahr lediglich einen Beitrag mit einer Länge von 150 Sekunden. In der österreichischen «ZIB 1» sah es nicht viel anders aus (40 Sekunden über Tigray), ebenso in der deutschen «Tagesschau» (255 Sekunden), wo in der ersten Jahreshälfte den Sportmeldungen sogar mehr Sendezeit als allen Ländern des Globalen Südens zusammen eingeräumt wurde.
Die Vernachlässigung in den Nachrichten gilt auch für die Situation im Jemen, die die Vereinten Nationen als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“ einstufen. Bis Ende 2021 sind in dem Bürgerkrieg zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung schätzungsweise über 377.000 Menschen gestorben. Das Land sah sich 2017 mit der weltweit größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie konfrontiert und UNICEF wies darauf hin, dass in dem Konflikt bis Ende 2022 über 11.000 Kinder gestorben oder verletzt worden sind. Etwa Zweidrittel der Bevölkerung, mehr als 23 Millionen Menschen – darunter mehr als die Hälfte Kinder – sind bis heute auf humanitäre Hilfe angewiesen.
In der Schweizer «Tagesschau» wurde hierüber kein einziges Mal berichtet. Der Jemen wurde zwar kurz exkursorisch in drei Berichten erwähnt, aber mit keinem eigenständigen Beitrag bedacht, der die humanitäre Notlage thematisiert hätte. Auch die österreichische «Zeit im Bild 1» widmete dem Jemen im gesamten Jahr 2022 nur etwa 185 Sekunden, die deutsche «Tagesschau» ca. 360 Sekunden.
Insgesamt gehören die deutsche und Schweizer «Tagesschau» und die österreichische «Zeit im Bild 1» zu der Gruppe der Medien im deutschsprachigen Raum, die nur etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit für Nachrichten aus dem Globalen Süden verwenden, obwohl dort mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt. Dabei ist es frappierend ist, wie sehr sich die geografischen Berichtschemata der drei Nachrichtensendungen ähneln.
Dieses Muster der Berichterstattung ist für Ereignisse, die sich im Globalen Süden ereignen, deutlich weniger empfänglich als für Vorkommnisse, die im Globalen Norden stattfinden. Das Interesse an Themen aus geografisch oder kulturell näherstehenden Gebieten ist menschlich und bis zu einem gewissen Grad verständlich. Die Dominanz der Themen des Globalen Nordens ist aber erschütternd erdrückend. Die führenden Nachrichtensendungen müssen sich die Frage stellen lassen, wieso zahlreiche Themen des Globalen Südens so massiv vernachlässigt wurden. Hierzu gehören fundamentale Ereignisse wie die Entwicklungen in Äthiopien und im Jemen, die fast vollständig ausgeblendet wurden.
Das Desinteresse an den beiden Bürgerkriegsländern zeigt sich nicht zuletzt in der Statistik von Sondersendungen. Während die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg in allen drei Ländern von zahlreichen Spezialsendungen begleitet wurden, erschien zur Lage in Tigray und im Jemen keine einzige Sondersendung.
Der Vorrang von Nachrichten aus dem Globalen Norden kann dabei teilweise bizarre Züge annehmen. Zum Beispiel berichtete die Schweizer «Tagesschau» 180 Sekunden lang über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab (anschließend folgte ein 145 Sekunden-Beitrag über die Oscar-Ergebnisse). Damit wurde dem Vorfall zwischen den beiden US-Schauspielern mehr Zeit eingeräumt als für den tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts (Tigray) und der weltweit schlimmsten humanitären Krise (Jemen) zusammen. In ihrem Jahresrückblick nahm sich die Schweizer Nachrichtensendung dann wieder 65 Sekunden Zeit, um an die Ohrfeige zu erinnern, während die Bürgerkriege in Tigray und im Jemen im Rückblick gar nicht thematisiert wurden.
Den Hauptnachrichtensendungen fällt eine große Verantwortung zu. Sie haben entscheidenden Anteil daran, womit sich Zuschauerinnen und Zuschauer politisch beschäftigen. Die Nachrichten beschreiben nicht nur, worüber diskutiert und nachgedacht wird, sondern bestimmen dies mit und haben damit entscheidenden Einfluss darauf, welche Themen politisch behandelt und möglicherweise auch gelöst werden können. Umso wichtiger ist es, dass der Wert von Nachrichtengeschehen primär nach ihren menschlichen Dimensionen und nicht nach ihrem geografischen Standort beurteilt wird.
Videozusammenfassungen zu den hier vorgestellten Ergebnissen können hier angesehen werden.
Die Ausgangsstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“, in der unter anderem über 5.000 Ausgaben der deutschen «Tagesschau» ausgewertet wurden, sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de
Auf der Seite finden sich unter anderem auch eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf den Untersuchungen beruhenden Wanderausstellung.
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