Debatte

Holt «Lenßen Live» ins Hauptprogramm!

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«Lenßen Live» fristet seit Jahren ein unwürdiges Schattendasein in der Nische. Auch wenn Sat.1 bisher versäumt hat, den Kultanwalt am Telefon wirklich zum Domian-Nachfolger aufzubauen, ist es dafür noch nicht zu spät - Ein Plädoyer von Mario Thunert.

Am 29. Oktober 2015 flimmerte die erste Ausgabe der Call-In-Sendung «Lenßen Live» bei Sat.1 GOLD über den Schirm, in der Zuschauer*innen bei TV-Anwalt Ingo Lenßen anrufen können, um von jenem Ratschläge und Einschätzungen zu mal mehr, mal weniger tiefgreifenden persönlichen Rechtsfällen zu erhalten. Auch wenn sich die Thematik durchaus unterscheidet, kam der Start vielleicht nicht ohne Zufall zu einer Zeit, in der der bis dato bekannteste Late-Night-Telefon-Talker Domian seinen Abschied zum Jahresende 2016 bekannt gab. Es schien sich also auf absehbare Zeit eine Lücke am nächtlichen TV-Himmel aufzutun, und Sat.1 willens, mit einem seiner charismatischsten Sendergesichter in diese Lücke zu stoßen.

Was folgte, war eine Art Testlauf-Programmierung über sieben Wochen mit jeweils einer Ausgabe pro Woche, aus der das Format aber leider nie herausgewachsen ist bzw. nie herauswachsen durfte, und in der es fast acht Jahre nach Sendestart bis heute festhängt. Bei zwar verlängerter Laufzeit auf zwei Stunden und trotz inzwischen erreichtem Kultstatus auf Social-Media, liefen im letzten Jahr lediglich 5 Shows - wie es seit 2018 in jedem Jahr der Fall war. Auch nach aktuellem Stand geht es 2024 in diesem Modus weiter. Will man einen ursprünglichen Plan der Etablierung einer festen Late-Prime-Marke unterstellen, so lässt sich daraus getrost folgern, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist, oder etwa aus Fahrlässigkeit und fehlendem Mut nicht ausreichend weiterverfolgt wurde?

Betrachtet man die Programmplanung, so lassen sich jedenfalls Versäumnisse ausmachen, die vor dem Hintergrund des Kultstatus in einer treuen Fangemeinde und einem feststellbaren Bedürfnis nach Nachttalk-Formaten unverständlich erscheinen. Doch mehr noch: Sie laufen dem Grundcharakter dieses Genres zuwider und verhindern, dass «Lenßen Live» die aufblitzenden Funken seines Potenzials zu einem wirklichen Lagerfeuer ausweiten kann. Zwar mag die Entscheidung für Sat.1 GOLD als Ausstrahlungsplattform in der Sparte zur Anfangszeit plausibel gewesen sein. Gerade auch in Anbetracht des Umstandes, dass das Referenzformat «Domian» ebenfalls nicht im Hauptprogramm lief und von einer gewissen Nischigkeit und Abgrenzung mit speziell interessiertem Publikum zehrte. Doch erweist sich in diesem Fall die «K11»-Abspuhlstation mit redundantem Image und begrenzter Breitenwirkung auf Dauer eher als Hemmschuh, die dem Erreichen einer nicht zu mainstreamigen, aber dennoch signifikanten Öffentlichkeit entgegensteht, die die Voraussetzung für eine stärker fühlbare Zuschauer*innen-Gemeinde ist.

Denn auch davon leben Late-Night-Artige (Live-) Sendungen: Von dem Gefühl einer exklusiv anmutenden Fangemeinde, die trotz dessen eine gewisse Schwelle der (gleichzeitig geteilten) Öffentlichkeit erreicht/überschreitet. Dafür müssen Anchor-Protagonisten/Protagonistinnen solcher Formate zu einer festen in der (nächtlichen) Luft liegenden Größe werden, zu einem selbstverständlichen ‚Äußeren‘, in das sich die Zuschauer*innen/ Zuhörer*innen einhängen können. Das ist das, was sich Jürgen Domian und WDR/1LIVE über die Jahre erarbeitet haben, und das ist das, was Sat.1 mit Ingo Lenßen (bisher) verpasst hat. Schließlich gehört dazu neben einem gewissen Konzentrationsgrad der öffentlichen Aufmerksamkeit vor allem eine regelmäßige/ständige und damit feste Verabredung mit dem Publikum.

Genau diese so wichtige prägende Dimension führt der gewählte Ausstrahlungsrhythmus mit total verlorenen und fast lächerlich daherkommenden fünf Sendungen einmal im Jahr nahezu ad absurdum, was den faden Beigeschmack einer stiefmütterlichen Behandlung hinterlässt. Es drängt sich folglich die Frage auf, ob die scheinbar zu geringe Zuschauer*innen-Resonanz der ersten Ausgaben eine höhere Anzahl an Sendeterminen verhindert hat, oder, ob nicht vielmehr die zu geringe Anzahl an Sendeterminen eine höhere Zuschauer*innen-Resonanz verhindert (hat). Eindeutig beantwortet werden kann das letztlich natürlich nicht. Fakt ist jedoch: Eine echte Chance, dies herauszufinden und in einen Flow zu kommen, hatte das Format nie, hat man dem Format nie gegeben.

Sicherlich lassen sich neben der Kritik am Umgang der Sendergruppe mit dem Telefon-Talk auch inhaltliche Schwächen ausmachen, die ebenfalls einen Teil dazu beigetragen haben könnten, dass das Format bisher noch nicht richtig durchgestartet ist. So sind die bisweilen unterhaltsamen (teilweise aber auch betroffen machenden) Rechtsfälle inklusive der legendären Bauchbinden, welche sich oft um Nachbarschafts-/Familienstreitigkeiten, Hausverbote, Versicherungs-, Verkehrs- und Miet-Angelegenheiten drehen, zwar mitverantwortlich für den Kultstatus, den die Show zumindest auf Twitter (X) generieren konnte - Doch fördert die eher streifende Behandlung der Fälle das Übergewicht eines zu Trivialität tendierenden Unterhaltungswertes, der insgesamt eine Vagheit und Flachheit befördert, die mehr Vertiefung vertragen könnte.

Vor allem die oftmals fehlende wahrnehmbare Konsequenz einer konkreten Problemlösung und damit dramaturgisch erlebbaren Einflussnahme auf den Verlauf der Fälle, lässt jene zu oft zu sehr verpuffen. Hier könnte Ingo Lenßen durch eine Erhöhung der Ressourcen und Kapazitäten, die u.a in den Ausbau der Redaktion fließen sollten, gestärkt werden. Bspw. mit zusätzlichen Rechtsberatern, Juristinnen, Anwälten, Fallbearbeiterinnen, Rechercheuren und Fachredakteurinnen. So, dass er und das Team bereits zuvor, aber auch nachher, umfassender (bspw. anhand von Unterlagen, Ortsbegehungen etc.) in die Fälle einsteigen können, um dann im Gespräch auf Sendung mehr konkrete Tiefe und plastische Lösungsstrategien zu generieren, deren Entwicklung dann auch für die Zuschauer*innen greifbar weiterverfolgt werden. Z.B in Form von Wiederanrufen zur Weiterbesprechung bei neuen Zwischenständen oder gar in einem Doku-Soap-Ableger, in dem Lenßen in speziellen Fällen die Betroffenen vor Ort besucht und (mit seinem Team) vertritt. Vielleicht ließe sich so eine Basis schaffen, um auch schwerere, komplexere und weitreichendere Sachverhalte zu bearbeiten, die das Publikum durch noch höhere Tragweite dramatisch mitfühlen lassen. (Die Tragik und Schwere einiger bereits in der Vergangenheit behandelter Fälle sowie der rührende Umgang der Fangemeinde soll damit nicht abgewertet werden).

Insgesamt ist das Standing des Formats also von den Risiko-Investitionen abhängig, die Sat.1 (SevenOne) bereit ist, hineinzustecken, um die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu erhöhen, ohne eine Garantie dafür zu erhalten. Neben Stärkung der Man-&Woman-Power zur Erhöhung der Einflusskraft und Helpwirkung, müssten diese vor allem auch in den Ausstellungs- und Schauwert der Call-In-Show fließen, um die Studio-Kulisse weg vom farblich nicht zusammenpassenden Plastik-Kitsch hin zu einem kammerartig atmosphärischen Set zu führen, welches Ingo Lenßen als Anchor souverän stilisiert und idealisiert sowie die bereichernden Auftritte von Kevin Körber punktuell effektiver macht. Erst wenn Zuschauer*innen erkennen, dass Verantwortliche in ein Format investieren, sprich in Vorleistung dafür gehen, weil sie daran glauben, tun sie es vielleicht auch. Sat.1 muss die Sendung als glänzende Perle polieren, und nicht erwarten, dass die Zuschauer*innen dies tun - Nur so wird ein Schuh draus!

Dazu gehört ein regelmäßiger wöchentlicher Slot an möglichst 2-3 Tagen zu einer festen passenden Late-Prime-Sendezeit ab 22:45 oder 23:00 mit einer komprimierenden Verschlankung auf maximal 75 Minuten Brutto oder weniger. Das Wichtigste aber ist die Beförderung ins größere Sat.1, damit ein weitreichenderes Öffentlichkeitssetting gesetzt wird, welches als Lagerfeuer-Statement die Wahrscheinlichkeit eines Sogautomatismus erhöht. Da dem strauchelnden Bällchensender eine stärkere Live-Rahmung als Line-Up-Basis gut zu Gesicht stünde, und ob zahlreicher Quotenflops dringend Content fürs Relevant-Set benötigt wird, kann es der neue Chef doch einfach mal versuchen.

Also, lieber Marc Rasmus: Holen Sie «Lenßen Live» (endlich) ins Hauptprogramm!
– zu spät ist es dafür (noch) nicht.

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