«Sterben» von Matthias Glasner ist eine Art moderne Version des Familiendramas aus dem 19. Jahrhundert, erzählt in fünf Akten und drei Stunden: Wir sehen die betagten Eltern der Familie Lunies, die zwar noch allein und selbstbestimmt leben, bei denen aber klar ist, dass es nicht mehr lange gut gehen wird. Vater Gerd ist schwer dement und läuft gerne nackt im Freien herum, Mutter Lissy hat ihre Verdauungsorgane nicht mehr richtig im Griff und wacht morgens gerne in ihren eigenen Exkrementen auf. Als der Vater im Sterben liegt, soll die Familie zur Beerdigung zusammenkommen, doch das ist gar nicht so einfach. Zu entfremdet ist man, zu kühl ist das Verhältnis zueinander, zu wenig Familie im klassischen Sinne ist übrig geblieben. So gehört der zweite Teil Tom (Lars Eidinger), der als Dirigent in Berlin lebt und hier für eine Stiftung das Stück «Sterben» seines depressiven, leidenden Künstlerfreundes Bernard inszenieren soll. Im dritten Teil lernen wir Ellen (Lilith Stangenberg) kennen. Die Tochter, die sich völlig von der Familie entfremdet hat und als partywütige, alkoholkranke Zahnarzthelferin in Hamburg lebt.
In dieser Konstellation geht es um die Frage, inwieweit kalte Eltern kalte Kinder in die Welt setzen. Denn eines verbindet sie alle: ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer. Wo funktionierende Menschen Mitgefühl und Empathie hätten, haben die Lunies allenfalls alltägliche Grausamkeiten füreinander übrig. Fast beiläufig und grausam offenbart Mutter Lissy ihrem Sohn, dass er ein ungewollter Unfall war, den sie selbst als Baby auf den Boden fallen ließ (oder gar warf?). Um dies zu kompensieren, projiziert sie all ihre Liebe auf ihre Tochter - was diese wiederum erdrückt und in eine Spirale des Eskapismus treibt.
So entfaltet Glasner ein autobiografisch gefärbtes Familienbild, das neben den genannten Topoi auch den Generationenkonflikt und die Dorf-Stadt-Dichotomie thematisiert: So fliehen die beiden Kinder ausgerechnet in die beiden Großstädte Berlin und Hamburg, um dort ungestört traurig sein und sich ganz ihren Hipster-Problemen - vom Elektroauto mit zu geringer Reichweite bis zur Leihmutterschaft - hingeben zu können. Sorgen, die der Dorfbewohner nicht hat...
Es ist nicht die feine Klinge, die Glasner hier inszeniert. Sein Film tendiert eher zur Groteske als zu einem subtilen Psychogramm der Protagonisten, die Figuren sind allesamt leicht überzeichnet und würden auf der Theaterbühne mit ihrem großen Pathos etwas besser funktionieren als im Film - auch wenn ironischerweise gerade Eidinger hier noch am zurückhaltendsten spielt. Vor allem aber gönnt Glasner dem Zuschauer keine Klimax, keine große Zusammenführung der Handlungsstränge, keine Katharsis im eigentlichen Sinne. Alles fasert aus, manche Figuren treffen gar nicht aufeinander - was es wiederum sehr realistisch macht, denn nicht jeder bekommt die Chance, sich von seinen Eltern zu verabschieden, nicht jedes Leben endet mit einem großen Knall. Manche fasern einfach aus.
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