Hingeschaut

Katrins Boy Group oder: Die Auferstehung von Delling und Netzer

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Das ZDF hat mit Per Mertesacker und Christoph Kramer das altbekannte Experten-Duo für die Heim-EM verpflichtet. Die beiden Weltmeister von 2014 erinnern an das einstige Sportschau-Duo Gerhard Delling und Günther Netzer.

Wie enttäuscht kann man von einer Fußball-Mannschaft sein, die im Viertelfinale einer Europameisterschaft steht und in vier Spielen erst zwei Gegentore kassiert hat? Würde man Christoph Kramer fragen, erhielte man höchstwahrscheinlich nicht nur die Antwort „sehr enttäuscht“, sondern auch eine wunderbar polemische Ausführung, wie schlecht die Engländer tatsächlich ihre Spiele bestreiten. Bereits nach dem ersten Auftritt der Mannschaft von Gareth Southgate schäumte der aktive Fußball-Profi von Borussia Mönchengladbach vor Wut und zeigte sich fast schön persönlich getroffen von der durchwachsenen Leistung des gehandelten Turnierfavoriten.

Der Umstand, dass Kramer selbst noch in der Bundesliga präsent ist, macht seine unterhaltsame Schroffheit durchaus bemerkenswert, denn aktive Kicker halten sich mit Kollegenschelte gerne eher zurück. Kramer geht anders vor. Er weiß um seine Rolle. Fußball ist Sport, klar. Aber die Zuschauer am Bildschirm konsumieren das Spiel auch, um sich unterhalten zu lassen. Auf diesen Trichter sind immer mehr Facetten des Fußballs gekommen, anders sind Journalisten-Erscheinungen wie Florian Plettenberg oder Fabrizio Romano, die täglich hunderte von Transfer-Updates via ‚X‘ verbreiten nicht zu erklären.

Das Schöne an Christoph Kramer ist im Gegensatz zu „Plettigoal“ und Co. vor allem seine Balance. Ja, der Mittelfeldspieler hat Rampensau-Qualitäten, weiß diese aber bewusst einzusetzen und drängt nicht Wort für Wort in den Vordergrund. Kramer sitzt ohnehin nicht alleine im ZDF-Studio in Berlin. An seiner Seite stets präsent: Per Mertesacker. Gemeinsam liefern die beiden Weltmeister von 2014 fundierte Analysen, interessante Anekdoten und wissenswerte Erfahrungen. Dabei kommt die Unterhaltung nie zu kurz, schließlich gab es in der Gruppenphase zwischen den Spielen etliche TV-Stunden zu füllen.

Selbiges galt auch beim Achtelfinale der deutschen Nationalmannschaft am Samstag, als die Partie nach rund 35 Minuten wegen eines Gewitters über dem Dortmunder Stadion unterbrochen werden musste. Kommentator Oliver Schmidt gab zwischenzeitlich an „Katrin und ihre Boygroup“ ab. Katrin Müller-Hohenstein, Christoph Kramer und Per Mertesacker befanden sich vor wasserfallartiger Kulisse im Dänemark-Block und waren von der Spielunterbrechung zunächst sichtlich überrascht. Kramer avancierte in der rund zehnminütigen Schalte zum Sprachrohr, schließlich sei er auf dem Bauernhof aufgewachsen und mit allen Bauerweisheiten gewaschen. Nach kurzer Wetterprognose, mit der er Recht behalten sollte, analysierte er die Taktik der DFB-Elf und warum sie sich nach der Anfangsphase schwerer getan hatte. Es war eine wie eine zehn Minuten zu früh begonnene Halbzeitanalyse, deren Ende allerdings schwer absehbar war.



Daher ließ das Experten-Duo auch eigene Erfahrungen von der Regenschlacht in Recife bei der WM 2014 miteinfließen. Als zum Sportlichen das Gröbste gesagt war, begannen sich die beiden Weltmeister gegenseitig aufzuziehen. Mertesacker fragte, ob Kramer damals eigentlich gespielt hätte. Kramer bezeichnete sich selbstironisch als „weißer Brasilianer“, der damals die Eisenstollen angelegt hätte. Die Kabbeleien von Mertesacker und Kramer erinnern zuweilen an ein ehemaliges Fußball-Beobachter-Duo vergangener Tage: Günther Netzer und Gerhard Delling. Die Sprüche sind nie persönlich gemeint, sondern dienen als Mittel zum Zweck. Die Experten versuchen mit Fachwissen zu glänzen und wollen so den anderen übertrumpfen. Sportlicher Ehrgeiz.

Kramer und Mertesacker schaffen es aber die zuweilen präsente Verbissenheit eines Netzers in ulkigen Studioeinlagen aufzulockern. So verwettete Kramer beispielsweise das Sakko von Mertesacker an einen Studio-Gast. Mertesacker machte den Spaß wie auf Kommando mit. Auch als Kramer das „Was wird“-Meme reproduzieren wollte, Mertesacker aber auf dem Schlauch stand, keiften sich die beiden nicht gegenseitig an, sondern spielten ihre Rollen als Elder Statesman (Mertesacker) und der Fußball-Romantiker mit der lockeren Zunge (Kramer) ganz wundervoll und nahmen die Situation mit Humor. Christoph Kramer und Per Mertesacker haben verstanden, dass Fußball nicht nur eine sportliche Angelegenheit ist, sondern eben auch ein Unterhaltungsgeschäft. Mertesackers Karriere liegt hinter ihm, Kramers aktive Zeit auf dem Fußballplatz neigt sich ebenfalls dem Ende. Eine lange Zukunft auf dem ZDF-Sofa ist ihnen schon jetzt sicher.

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