Interview

Dr. phil. Christian Hardinghaus: ‚True-Crime-Shows haben journalistischen Charakter‘

von

In dem neuen Sachbuch „Die Sucht nach Verbrechen“ geht Hardinghaus dem Thema True-Crime nach. Für Quotenmeter analysiert Hardinghaus den Erfolg von «Aktenzeichen XY… ungelöst».

«Aktenzeichen XY… ungelöst» ist in Deutschland seit Jahren beliebt. Reizt den Deutschen das Format, weil es vor der Haustür spielt?
«Aktenzeichen XY» ist ein Erfolgsgarant durch und durch. Nicht nur für die TV-Macher, die regelmäßig Quoten mit Marktanteilen um die 20 Prozent einstreichen können. Auch die Aufklärungsquote der Verbrechen ist hoch. Sie liegt aktuell bei 38,9 Prozent. Bis Ende Mai 2024 wurden somit in 602 «XY»-Sendungen 5060 Fälle behandelt. 1969 davon wurden aufgeklärt, darunter 674 von 1644 Tötungsdelikten. Geschichten und Berichte über Verbrechen reizten die Menschen schon immer. Die erste Sendung von «Aktenzeichen XY» war 1967 in ihrer Machart ganz neu. TV-Zuschauer konnten sich an der Aufklärung von Verbrechen aktiv beteiligen. Das Konzept hat sich bis heute kaum verändert und ist oft kopiert worden. Neben der allgemeinen Faszination für Verbrechen spielt natürlich bei «XY» auch eine Rolle, dass es sich um Verbrechen in Deutschland handelt. Die Chance, dass Zuschauer Tatorte oder Täter wiedererkennen, ist damit umso höher. Auch der entstehende Grusel, dass abscheuliche Verbrechen in direkter Nachbarschaft stattfinden, kann eine Faszination generell ausüben wie auch die „Nachbarschaftshilfe“ anregen und Zuschauern das Gefühl geben, für Sicherheit und Ordnung sorgen zu können oder zu müssen.

Private Fernsehsender wie RTL und Sat.1 haben versucht, «Aktenzeichen XY... ungelöst» zu kopieren. Das hat nie funktioniert. Hat das ZDF ein „Perpetuum mobile“ geschaffen, weil so viele Menschen mitmachen, weil die Reichweite so hoch ist?
Wenn etwas Erfolg hat – egal, was es ist – dann versuchen natürlich andere, auf den Erfolg aufzuspringen. Das beobachten wir bei Musikcharts genauso wie bei Filmen, Computerspielen oder Serien. Der Konsument merkt aber natürlich auch, wenn die Kopie nicht an das Original heranreicht. Es kann also nach hinten losgehen. «Aktenzeichen XY» ist so lange etabliert, dass selbst die Macher kaum wagen, etwas an dem Konzept zu verändern. Hier zeigt sich einmal schön, dass Beständigkeit ein Erfolgsfaktor ist. Das macht ein Stück weit die Fernsehkultur aus. Ähnliches beobachten wir ja beim «Tatort». Ob «Derrick», «Schwarzwaldklinik» oder «Lindenstraße», Kopien müssen sich am Original messen. Und auch wenn neue Formate angesehen werden, äußern Konsumenten doch immer wieder, dass „früher alles besser gewesen sei.“

Seit rund 25 Jahren läuft die True-Crime-Show «Medical Detectives» bei VOX, der Boom kam allerdings erst viele Jahre später. Haben Sie eine Ahnung, warum wir uns jetzt für „echten“ Mord & Totschlag interessieren?
Gerade bei «Medical Detectives» hat man das Gefühl, dass die Sendung immer da war und immer da ist. Die endlosen Wiederholungen im Nachtprogramm erreichen auch noch um die 30 Prozent Marktanteil, wahrscheinlich aber auch aus Mangel an Alternativen. Vielen gilt das nächtliche Zappen immer noch als gute Einschlafhilfe, und die monotone Erzählstimme von «Medical Detectives» und bekannte Gesichter wie Mark Benecke scheinen da gut zu wirken. Das spricht natürlich insgesamt weniger für spannende Unterhaltung und müsste als Phänomen für sich untersucht werden. Der richtige True-Crime-Boom, also Formate, die so fesseln, dass man garantiert nicht einschläft, begann um 2014 mit dem Erfolg von Podcasts und Streaming-Anbietern. Mit beidem ist das Genre True Crime untrennbar verbunden und gehört hier und da zu den erfolgreichsten Formaten.

Warum ist besonders True-Crime im Audio-Bereich so erfolgreich?
Das Medium Radio hatte immer eine ganz eigene Faszination. Und trotz der Weiterentwicklung der Medien ist das reine Hören ohne Bilder im Entertainment-Bereich genauso erhalten geblieben wie das Lesen. True-Crime-Sendungen nutzen zudem den Serien-Effekt und haben einen Suchtfaktor, gerade dann, wenn mehrere Episoden zu einem Kriminalfall eine ganze Staffel ausmachen. Man spricht im True-Crime-Podcast-Bereich auch vom „«Serial»-Effekt“, benannt nach dem erfolgreichen, amerikanischen Vorreiter-Podcast von 2013, an dem sich heute fast alle neuen Serien orientieren. In Deutschland vorherrschend ist allerdings das Format: Ein Fall pro Sendung. Hier steht vor allem die Bindung der Hörer mit den Hosts der Sendung im Vordergrund. Die Podcasts setzen auf Interaktivität. Die meistens weiblichen Hosts zeigen Gefühle, sprechen die Zuhörer direkt an, fordern sie zur Mithilfe auf oder bitten darum, Wunschthemen vorzuschlagen. Diese Sendungen bieten neben dem persönlichen Mitmachgefühl auch die Möglichkeit, sich mit anderen Fans der Sendung zu vernetzen und nach der Sendung weiterzudiskutieren. Social Media ist in dem Bereich besonders wichtig. Erfolgreiche Podcasts bieten inzwischen auch Live-Events an. Die Hosts besprechen dann Fälle auf der Bühne und treffen sich mit ihren Fans. Besonders auffällig ist, dass nicht nur die Hosts in der absoluten Mehrzahl weiblich sind, sondern auch die Fans und Hörer der Sendung. Das ist eine Beobachtung für den gesamten Bereich.

Welche ethischen Überlegungen spielen bei der Produktion von True Crime-Shows eine Rolle, insbesondere im Hinblick auf die Darstellung von Opfern und ihren Familien?
True-Crime-Shows haben journalistischen Charakter und sollten sich auch an journalistischen Maßstäben bemessen lassen. Da kommt auf die Hosts eine besondere Verantwortung zu. Die Gebote der Verdachtsberichterstattung müssen eingehalten werden, das heißt, es muss gerade bei offenen Fällen die Unschuldsvermutung gelten und Namen von potentiellen Tätern sollten nicht voll genannt werden. Auch müssen die Familien der Opfer und ihre Privatsphäre geschützt werden. Das klappt nicht immer gut, besonders dann nicht, wenn die Hosts nicht selbst journalistische Erfahrung haben. Die deutschen Top-Podcasts sind in dieser Hinsicht aber mittlerweile höchst professionell aufgestellt. Im Hintergrund arbeiten Produktionsfirmen redaktionell und haben rechtliche Beratung.

Wie beeinflusst die narrative Struktur und Präsentation einer True Crime-Show die Wahrnehmung des Publikums über den tatsächlichen Fall?
Im True-Crime-Bereich sprechen wir von einem Hybridgenre. Einerseits handelt es sich um echte Fälle, andererseits orientieren sich die Formate an der Narration klassischer Krimis. Das heißt, fiktive Elemente bei der Darstellung des Falles können einbezogen werden. Das darf in einer Dokumentation natürlich nicht so weit gehen, dass Fakten verändert werden, sondern sollte sich auf das Erzeugen von Stimmungsbildern beschränken. Dem Zuschauer muss aber bewusst sein, dass Streaming-Serien und Podcasts vor allem auf den Entertainment-Faktor setzen und keinen echten Journalismus und schon gar nicht eine juristische Darstellung ersetzen können.

Inwiefern unterscheiden sich True Crime-Dokumentationen von fiktionalisierten True Crime-Serien in Bezug auf Recherche und Darstellung?
Auch die Dokumentationen weisen fiktive Elemente auf. Es gibt aber auch die vollständig fiktionalisierten Formate, als Vorbild dient hier beispielsweise «CSI». Hier werden keine echten Fälle präsentiert, somit fallen auch die Hürden der Verdachtsberichterstattung weg. Die Macher können hier also kreativ und stilistisch aus dem Vollen schöpfen, entwickeln also fiktionale Crime-Stories, wollen aber dennoch den Anschein wahren, es handele sich um echte Fälle. Um diesen Eindruck zu erwecken, orientieren sie sich an realen Vorbildern. An den Produktionen beteiligt sind deswegen häufig auch echte Forensiker, die zwar nicht echte Fälle besprechen, aber authentische Ermittlungsmethoden erklären. Während True-Crime-Dokumentationen aufklärerischen Charakter haben, ist True-Crime-Fiction reine Unterhaltung. Unterhaltung, die aber wie zum Beispiel historische Dokumentationen eine Menge Wissen vermitteln. So geben sowohl Internetdetektive an, sich über entsprechende Formate Fachwissen angeeignet zu haben, so wie sich in einigen Fällen auch gezeigt hat, dass echte Täter auf ihr „«CSI»-Wissen“ zurückgreifen. Besonders wichtig erscheint mir, dass vor einer True-Crime-Sendung darauf hingewiesen wird, ob es sich um wahre oder erdachte Verbrechen handelt. Das könnte für meinen Geschmack noch deutlicher hervorgehoben werden.

Welche Rolle spielen Interviews mit Beteiligten wie Ermittlern, Zeugen und Familienangehörigen bei der Authentizität und Glaubwürdigkeit einer True Crime-Show?
True-Crime hat den Anspruch, authentisch zu sein. Alles, was also echt ist, hat Vorrang in einer Sendung. Sowohl für den dokumentarischen Charakter als auch für den Entertainment-Faktor bieten reale Tatortfotos und -videos oder Interviews mit beteiligten Ermittlern, Zeugen der Tat, den Angehörigen der Opfer oder den Tätern selbst einen Authentizitätsnachweis und sind aus Streaming-Angeboten gar nicht wegzudenken. Wichtig ist, dass Produzenten und Interviewpartner mit offenen Karten spielen und seriöse Verträge aushandeln. Oftmals beschweren sich die Interviewten nach Erscheinen der Sendung, dass sie verkürzt dargestellt werden oder behaupten sogar, manipuliert worden zu sein. Das ist aufgrund der Reichweite der Sendungen sehr bedauerlich. Auch hier müssen journalistische Maßstäbe nach Neutralität stärker beachtet werden. Wir alle wissen, dass ein Serienmörder, der vor der Kamera auspackt, die schlimmsten Dinge getan hat, doch es hilft der Aufklärung nicht, wenn er durchgehend als Monster präsentiert wird. Je nach gewünschtem Format der Sendung kann das passieren. Die Gefahr, dass nach Ausrichtung der Produktion tatsächliche Täter verharmlost oder sogar als Opfer dargestellt werden, ist ebenso immer gegeben. Hier sind dann oftmals die Angehörigen der Opfer die Leidtragenden. Produzenten müssen sicherstellen, dass sie die richtige Balance zwischen Unterhaltung und respektvoller Berichterstattung über wahre Verbrechen finden. Neben einer sauberen Recherche verlangt das Ehrlichkeit im Umgang mit allen Beteiligten.

Welche Herausforderungen und Vorteile bringt die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden und Rechtsexperten bei der Erstellung einer True Crime-Show mit sich?
Vertreter der Strafverfolgungsbehörden sind in dieser Frage zwiegespalten. Einerseits wollen und können sie bei Erfolgsquoten, die Sendungen wie «Aktenzeichen XY» mit sich bringen, nicht auf das Mittel der Öffentlichkeitsfahndung verzichten, andererseits müssen sie sicherstellen, dass die über diese Sendung angesprochenen nicht eigene Ermittlungen anstellen oder etwa zum Mittel der Selbstjustiz greifen. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen. So erhalten Unschuldige Morddrohungen oder werden ausspioniert, während sich der angeregte Hobby-Detektiv als Kämpfer für die Gerechtigkeit sieht. In meinem Buch präsentiere ich viele Beispiele von Fällen, in denen Internetdetektive die Falschen verdächtigt haben. Andererseits auch solche, in denen sie entscheidend zur Ergreifung des Täters oder Lösung des Falles beigetragen haben. Das Phänomen des sogenannten Websleutings, das man als gesteigerte Form der True-Crime-Faszination verstehen kann, nimmt in den letzten Jahren rasant zu. Spezialisierte Foren ziehen Online-Detektive an. Darunter sind viele Experten, die über verschiedenes Fachwissen verfügen, auf das selbst die Ermittlungsbehörden nicht zugreifen können beziehungsweise darauf gar nicht kommen. Sinn und Ziel solcher Internetdetektiv-Communities ist es, über Schwarmwissen – sogenanntes Crowdsolving – zur Lösung eines Falles beizutragen. Die großen amerikanischen Foren sind dabei durchaus professionalisiert und arbeiten regelmäßig und erfolgreich mit echten Ermittlungsbehörden zusammen. Besonders effektiv hat sich das im Bereich der Ermittlung nicht identifizierter Toter herausgestellt. Erste Studien über dieses Crowdsolving zeichnen ein durchaus positives Bild der Internetdetektiv-Communities, da dort strengste Regeln gelten und es möglichst nicht zu Falschverdächtigungen kommt. Da spielen Selbstregulationen genauso eine Rolle wie die Überwachung der Foren durch geschulte Administratoren und Moderatoren. In Zukunft könnte hier unter Umständen auch eine Chance für deutsche Ermittlungsbehörden liegen. Die Vorteile eines professionalisierten Forums überwiegen und schaffen Voraussetzungen, an denen herkömmliche soziale Netzwerke scheitern, die Hetze und Mobbing oftmals nicht in den Griff bekommen.

Danke für die zahlreichen Informationen!

„Die Sucht nach Verbrechen“ ist ab Donnerstag, den 8. August 2024, im Handel erhältlich.

Kurz-URL: qmde.de/153625
Finde ich...
super
schade
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelQuotencheck: «37 Grad»nächster Artikel«Frank am Freitag»: BR gibt Martin Frank eigene Show
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner Veit-Luca Roth

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung