Interview

Sheri Hagen: ‚Ich war schockiert darüber, wie alltäglich Partnerschaftsgewalt ist‘

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Die Regisseurin beginnt nun mit den Dreharbeiten über den Spielfilm «Billie», der von häuslicher Gewalt handelt.

Frau Hagen, Sie arbeiten seit 2015 an der Verwirklichung Ihres Herzensprojekts «Billie». Was bedeutet es für Sie persönlich, dass der Drehstart nun endlich bevorsteht?
Das zeigt auf einer sehr schönen Art und Weise, dass Unmögliches möglich ist. Man braucht nur einen sehr, sehr langen Atem und einen starken Willen.

Der Film thematisiert Selbstbefreiung und häusliche Gewalt. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Themen miteinander zu verknüpfen und sie auf die Leinwand zu bringen?
Das Thema in meinem Film «Billi» ist die Selbstbefreiung, die ich auf der Grundlage von körperlicher und sexualisierter Gewalt reflektiere. Ich interessiere mich für die verschiedenen Formen von sozialer und familiärer Gewalt, die ich täglich teils erlebe oder beobachte, wie Gewalt in der Partnerschaft, die ich auch persönlich in abgeschwächter Form erlebt habe.
Nachdem ich festgestellt habe, dass alle meine engen Freundinnen auch mehr oder weniger stark davon betroffen waren, war ich schockiert darüber, wie alltäglich Partnerschaftsgewalt ist, nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern auch über Grenzen, Klassen und Altersgruppen hinweg. Das sollte nicht als selbstverständlich hingenommen werden, deshalb war es mir wichtig, darauf aufmerksam zu machen. So ist «Billie» entstanden, eine Geschichte, die diese heimliche Form der Gewalt, die für die Frau meist tödlich endet, in die Mi]e der Gesellschaft rückt. Ich hoffe, dass ich mit «Billie» Menschen, die häusliche Gewalt erleben, Hoffnung und Mut geben kann, sich selbst zu befreien.

«Billie» soll sowohl dramatische als auch komische Momente beinhalten. Wie gelingt es Ihnen, das Schwere und das Leichte auf so kra[volle Weise zu vereinen?
Schmerz und Lachen liegen dicht beieinander und gehen Hand in Hand. Beide kommen aus dem Bauch und dem Herzen. Nur durch das Lachen kann der Schmerz die Magengrube erreichen. Dort angekommen, habe ich die Chance, Menschen zu berühren und zum Nachdenken zu bringen, zumindest diejenigen, die empathisch sind. Es gibt nichts Schöneres, als vor Lachen zu weinen, oder zu weinen und wieder lachen zu können.

Sie erwähnen, dass die Berliner Organisation BIG e.V. den Film unterstützt. Wie wichtig war Ihnen diese Kooperation bei der Entwicklung des Films?
Ich bin dankbar, dass BIG e.V. Interesse an einer Zusammenarbeit zeigt und diese nicht von meinem Status abhängig macht. Sie haben sich immer wieder die Zeit genommen, meine verschiedenen Drehbuchfassungen zu lesen. Sie sind wirklich daran interessiert, häusliche Gewalt in einer Weise sichtbar zu machen, die der Opfer würdig ist. Ihre Rückmeldungen zu Handlung und Figuren waren effektiv und wichtig . Ihr Feedback hat insbesondere eine meiner Figuren stark beeinflusst
BIG e.V. ist auch bereit meine Hauptdarstellerinnen zu beraten, wenn sie das wollen und das ist nicht selbstverständlich.
Mir ist es immer wichtig, nicht über Dritte zu reden und zu schreiben, sondern auch die Betroffenen einzubeziehen, was ich mit dem Verein indirekt tue. Deshalb freue ich mich, mit ihnen einen Kooperationspartner gefunden zu haben und den Betroffenen indirekt zeigen zu können, dass es Auswege gibt.

In Deutschland war jede dritte Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Was erhoffen Sie sich, dass «Billie» im Hinblick auf dieses Thema bei den Zuschauerinnen und Zuschauern bewirkt?
Ich arbeite seit 2015 an «Billie», d.h. ich beschäftigte mich seit 2015 konkret mit dem Thema häusliche Gewalt. Diese Form der Gewalt hat zugenommen, und Corona hat sie leider noch beschleunigt. Ich hoffe, die Familien und Freund:innen, das soziale Umfeld der Opfer zu sensibilisieren. Aber auch Ärzt:innen, Polizei und Justiz sowie Pädagog:innen müssen weitergebildet werden und Präventionen für potenzielle Gewalttäter:innen, ohne sie zu stigmatisieren, sind ebenfalls notwendig.

Dank der Förderung von MOIN können Sie «Billie» nun in die Produtktion bringen. Wie bedeutend war diese Unterstützung für die Realisierung Ihres Films?
Kurz gesagt, ohne die Unterstützung und den Mut von MOIN, von der Stiftung Götz George und meinen privaten Unterstützer:innen, hätte ich «Billie» jetzt nicht drehen können. Denn leider sind unsere Filmförderstrukturen noch immer nicht inklusiv, nur bestimmte Filmschaffende dürfen erzählen, auch divers erzählen. Ich hoffe sehr, dass das neue Filmförderungsgesetz diese festgefahrenen und veränderungsresistenten Strukturen aufbricht
- Innovationen und wirkliche Diversität zulässt. Ich bin Teil der deutschen Gesellschaft und ich sollte auch selbstverständlich gesehen und gehört werden können, zudem auch meine Steuerabgaben und Ticketerlöse in die Filmförderungen fließen. Ich hoffe sehr, dass «Billie» nicht mein einziges Projekt bleibt, das eine MOIN-Filmförderung erhält - das wäre scherzhaft wieder zurückgeworfen zu werden.

Filmförderung ist für viele Filmemacher ein essenzielles Werkzeug. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen und Chancen, die mit einer solchen Förderung einhergehen?
Die Besetzung der Jurys und Gremien. Solange es nur weißgelesene und homogene Jury- Besetzungen und Gremien gibt, wird es für unterrepräsentierte Filmschaffende ein Lottospiel bleiben. Mit jeder Einreichung hopft man, wie beim Lottospiel, auf einen 6er im Spiel, auf eine:n Fürsprecher:in, die die Relevanz des Stoffes erkennen und unterstützen.
Auch wird ein zusätzliches Budget für Green Filming und Diversität hinter der Kamera benötigt. Die Politik sollte den Mehrwert erkennen und das Budget der Filmförderung dafür erhöhen, damit Produktionen Cast und Team gut honorieren können.

Wie gestalten sich die Vorbereitungen der Dreharbeiten in Hamburg, und welche Rolle spielt der Drehort für die Atmosphäre des Films?
Die Vorbereitungen für die Dreharbeiten laufen sehr gut. Ich habe engagierte Teammitglieder, die sich auf den Dreh freuen, aber auch zugleich sehr gespannt sind. Mein Team spiegelt die Menschen in Nettelnburg wider: divers, neugierig, freundlich, engagiert und hilfsbereit, mit den unterschiedlichsten, kulturellen Herkünften. Hamburg wie es heute 2024 auch ist. Meine unkomplizierten Motivgeber:innen verdeutlichen es am meisten, wie z.B. der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Hamburg-Ost. Unmögliches möglich machen durch Zusammenhalt, wie meine Hauptfiguren im Film: Nina und Angie.

Als Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin sind Sie in vielen Bereichen involviert. Wie gehen Sie mit den verschiedenen kreativen und organisatorischen Herausforderungen während der Produktion um?
Um meinen Fokus auf die Geschichte zu bewahren, teile ich die Verantwortung mit meiner Produktionsleitung und meinen jeweiligen Heads. Denen ich vertraue und für ihre bisherige, starke Arbeit sehr danke. Auch der hervorragende Cast ist eine große Inspiration für mich.

Auch habe ich mich aus meinem sozialen Umfeld komplett zurückgezogen, Freund:innen bezeichnen mich schon als „treulose Tomate“, aber das ist ok, vier Wochen vergehen im Nu. Schade ist, dass ich das diesjährige Hamburger Filmfest nicht erleben kann, gerade mit der neuen Festivalleiterin Malika Rabahallah hätte ich gerne den Aufwind selbst gespürt, aber nächstes Jahr hoffentlich.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des deutschen Films im Hinblick auf Unterstützung für Filme, die gesellschaftlich relevante Themen wie häusliche Gewalt und Selbstbefreiung behandeln?
Wir brauchen dringend neue Erzählformate und Bildsprachen, d.h. wir müssen neue Geschichtenerzähler*innen zulassen, die mit ihren relevanten Geschichten die Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums erweitern wollen. Einen Teil der Gesellschaft widerspiegeln, der bisher viel zu kurz gekommen ist - und auch deren Publikum. Ihnen Chancen zu bieten, sich zu entfalten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Alter. Dem Publikum die Chance zu bieten deren Filme und Geschichten zu entdecken und zu wissen, dass sie mit den Geschichten nicht retraumatisiert werden, sondern repräsentiert werden. Es gibt die Talente in Deutschland, aber zu viele werden zu Unrecht aussortiert. Die Politik muss Gesetze und Anreize schaffen, um diese Unterrepräsentierten zu fördern, wenn wir wirklich divers erzählte Filme vor und hinter der Kamera haben wollen, wie z.B. «Billie».

Vielen Dank für Ihre Zeit!

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