Hallo Herr Nay. Sie haben in den vergangenen Jahren an zahlreichen Projekten mitgewirkt, darunter «Tausend Zeilen» von Michael Herbig, «Legal Affairs» im Ersten, die internationale Netflix-Serie «Transatlantic» und «Der Tätowierer von Auschwitz». Haben Sie ein Gespür für gute Stoffe?
Ich spüre auf jeden Fall, wenn ich Drehbücher lese, ob sie mich interessieren, ob sie mich emotional faszinieren und packen. Das ist letztlich wie bei einem guten Roman, den man nicht weglegen kann. Diese Projekte gibt es nicht wie Sand am Meer, aber immer wieder freue ich mich, wenn bei derartigen Projekten an mich gedacht wird und ich mich dazu noch auf eine tolle Rolle mit einer großen Entwicklungsspanne vorbereiten oder wie bei «Legal Affairs» als Filmkomponist in der Postproduktion eines Ausnahmeprojektes kreativ einbringen darf.
Im Sky/Peacock-Drama spielten Sie Stefan Baretzki. Haben Sie kein Problem damit, solche Personen aus der Vergangenheit zu verkörpern?
Doch. Ich habe in der Vorbereitung auch immer wieder den Punkt erreicht, an dem ich mir ernsthaft die Frage gestellt habe, ob ich einen Menschen, der so bestialische Dinge getan hat, überhaupt spielen kann. Ausschlaggebend dafür, dass ich mich dieser Herausforderung gestellt habe, war nicht zuletzt der enorme politische Rechtsruck, den wir überall auf der Welt, auch hier in Europa, auch bei uns in Deutschland in den letzten Jahren feststellen. Ich finde es wichtig persönliche Erfahrungen aus der Zeit des Holocaust in Produktionen wieder aufleben zu lassen, in der Hoffnung, dass wir Kreativen auch unseren Anteil gegen das Vergessen leisten können.
Sie haben die Dokumentation «Karriere im KZ» gesprochen. Worum geht es und wie haben Sie sich damit auseinandergesetzt?
Hier geht es um eine Spurensuche anhand eines wieder aufgetauchten privaten Bildbands eines ehemaligen SS-Offiziers. Die Dokumentation geht der Frage auf den Grund, wie junge Menschen für das KZ-System zu solch kalten Mördern und Tyrannen ausgebildet wurden und auf welche Weise innerhalb der SS Karriere gemacht wurde.
Mich hat die Dokumentation enorm fasziniert, da immer, wenn ich mich mit einem Stoff aus dieser Zeit beschäftige, genau das die Frage zu sein scheint, die ich mir selbst nicht wirklich beantworten kann. Wie Menschen zu solchen Gräueltaten in der Lage sind.
Kommen wir zu «Concordia - Tödliche Utopie». Was erwartet uns in diesem Sechsteiler?
Die Serie dreht sich um ein gleichnamiges, fiktionales Städteprojekt, das in Schweden umgesetzt wird. Eine Stadt, in der sich alle Menschen, die in ihr leben wollen, mit der lückenlosen Überwachung auch im Privatleben einverstanden erklären und sich dadurch ein lebenswerteres Leben erhoffen. Der Plan scheint aufzugehen, längst sollen weitere Pilotprojekte in anderen Ländern gestartet werden, da wird ein Bürger Concordias ermordet aufgefunden und die Spurensuche fördert Lügen und menschliche Abgründe zu Tage.
Lückenlose Überwachung durch einen Staat - das klingt nicht gerade nach Freiheit und Gerechtigkeit, oder?
Ich würde es auch nicht mit Freiheit und Gerechtigkeit verbinden, jedoch spielt die Freiwilligkeit der Menschen, die sich dafür entscheiden, in einer Stadt wie «Condordia» zu leben eine nicht unwichtige moralische Rolle. Wir kennen umfassende staatliche Überwachung heute vor allem aus autoritären Staaten und wir kennen die mehr oder minder freiwillige Abgabe unserer persönlichen Daten an private Tech-Riesen wie Google, Amazon oder Meta. «Condordia» scheint sich da weder auf der einen noch auf der anderen Seite einsortieren zu lassen und stellt daher aus meiner Sicht ein spannendes Mindgame dar.
«Concordia» zeigt, dass auch die beste Technik nicht vor Übergriffen schützt. Drehen wir uns im Kreis, schließlich haben Forscher herausgefunden, dass selbst die Todesstrafe nicht vor Gewalt abschreckt?
Das sind für mich zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich bin absoluter Gegner der Todesstrafe, das sei vorher gesagt.
Die Frage ist ja, würde ein Mensch, ob in der Erwartung einer langen Haftstrafe oder einer Todesstrafe sei mal dahingestellt, eine geplante Straftat begehen, wenn er weiß, dass er dabei gefilmt und daher mit Sicherheit gefasst wird. Im Falle «Concordia» wird behauptet, man habe die Kriminalstatistik auf ein Rekordtief bekommen, dank lückenloser Überwachung. Die Frage, die mich eher umtreibt, ist die, ob es eine Verhältnismäßigkeit gibt, bezogen auf die Aufgabe von Persönlichkeitsrechten mit dem Wunsch nach vermeintlicher Sicherheit.
In dieser Serie soll das Projekt dieser Super-KI in Deutschland zum Einsatz kommen. Glauben Sie, dass wir uns diese Fragen eines Tages stellen werden?
Ja, ich denke schon. Vielleicht nicht allumfassend und nicht in privaten Räumen.
Mir persönlich machen schon gezückte Smartphones auf Familienfeiern oder die Entwicklung, seinen Standort öffentlich zu teilen, Bauchschmerzen. Mittlerweile bekommen die neuen Autos Kameras und Sensoren. Wenn wir ehrlich sind, steht die Infrastruktur schon längst. Es gibt nur noch kein Monopol, dass uneingeschränkt auf die Daten Zugriff hat und diese legal und algorithmisch auswerten darf.
Ständige Überwachung und Selbstoptimierung: Wird sich der Kühlschrank eines Tages nicht mehr öffnen lassen, wenn das Gewicht nicht stimmt?
Was für eine schlimme Vorstellung. Bisher sind all diese Funktionen nutzerorientiert, damit werden sie auch beworben. Für den utopischen Fall eines Nutzers, der sich dieses Gerät anschaffen möchte, um eine digitale Instanz zu haben, die ihn bei seiner Diät unterstützt – durchaus denkbar, finde ich.
Wird ein Nischenmarkt.
Schon heute erkennen Assistenzsysteme im Auto, wenn der Fahrer müde sein könnte. Oder Autos registrieren, dass man notorisch zu schnell fährt. Das würden die Firmen doch nur schamlos ausnutzen, oder?
Welche Firmen?
Also die heutigen Autobauer sind lobbyistisch so dermaßen mit den Energielieferanten verbunden, die freuen sich über höheren Verbrauch. Und ein kaputtes Auto wird nachgekauft. Zudem scheint es nur noch eine Frage der Zeit bis zum autonomen Fahren. Bin mal gespannt, was für Geschwindigkeiten wir dann auf der Autobahn erleben.
Das ZDF sendet die Serie an zwei Abenden bis spät in die Nacht. Wäre Ihnen ein Sendeplatz um 20.15 Uhr lieber?
Ich bin emsiger Mediathekennutzer. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal eine Fernsehzeitschrift in der Hand hatte. Ich wünsche der Serie großen Erfolg, natürlich auch bei den linearen nächtlich Zuschauenden. Und ich freue mich auf einen regen gesellschaftlichen Diskurs.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
«Concordia» ist seit 14. September 2024 in der ZDFmediathek verfügbar. Die lineare Fernsehausstrahlung erfolgt am Sonntag, den 20. Oktober, und Montag, den 21. Oktober, ab 22.15 Uhr.
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