Interview

‚Es heißt im Revier: der gefesselte Mann habe sich selbst angezündet'

von

Die Produzenten Bence Máté und Anna Herbst haben eine sechsteilige Serie zum Fall gedreht, in dem Polizisten institutionellen Rassismus aufzeigen. Inzwischen muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darüber urteilen.

Der Fall Oury Jalloh sorgt seit fast zwei Jahrzehnten für Entsetzen und Diskussionen. Warum war jetzt der richtige Zeitpunkt, eine umfassende Dokumentation darüber zu produzieren?
Bence Máté:
Seit Oury Jallohs Tod am 7. Januar 2005 hat sich vieles getan: Gerichtsverhandlungen, Mordermittlungen, privat initiierte Brandversuche, Autopsien und Gutachten. Die Materiallage ist enorm. Seit zwei Jahrzehnten lastet dieser Fall auf den Schultern des deutschen Rechtsstaates. Ein Zitat von einem der Anwälte der Nebenklage, der in unserer Serie zu Wort kommt, fasst es am besten zusammen: “Kann man sich vorstellen, dass Polizeibeamte einen in Gewahrsam Genommenen vorsätzlich anzünden und zu Tode kommen lassen? Ich würde mal sagen, als Bürger der Bundesrepublik Deutschland möchte man diesen Gedanken nicht haben.” Dieser Gedanke war für uns der ausschlaggebende Grund, die Serie zu machen. Auch wenn die juristischen Mittel in Deutschland ausgereizt sind, bleibt vieles zu den Todesumständen Oury Jallohs im Dunkeln. Aktuell liegt der Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Was macht den Fall Oury Jalloh zu einem so bedeutenden Symbol für mutmaßliche Polizeigewalt und institutionellen Rassismus in Deutschland?
Bence Máté:
Ein abgelehnter Asylbewerber aus Sierra Leone wird im Keller eines Polizeireviers an den Boden gefesselt. Man lässt ihn dort stundenlang so liegen und am Ende verbrennt er. Bereits wenige Stunden später, noch vor Beginn der Spurensicherung und vor jedweder Ermittlung, heißt es im Revier: der gefesselte Mann habe sich selbst angezündet. Dann wird die Niederschrift eines Telefonats veröffentlicht, in dem der Dienstgruppenleiter des Reviers den Arzt zur Blutentnahme bei dem gerade eingelieferten Oury Jalloh bestellt. “Piekste mal nen Schwarzafrikaner” - heißt es in dem Telefonat. „Ach du Scheiße, da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen“ - erwidert letzterer. Das Telefonat, in dem beide lachen, geht in diesem Stil weiter. Für viele Beobachter deuten diese Elemente des Geschehens möglicherweise auf Polizeigewalt und institutionellen Rassismus hin. Ob dies tatsächlich der Fall ist, galt es zu untersuchen. Und eben dafür, also für die Untersuchung, standen Freunde und die Familie von Oury Jalloh. An vorderster Stelle ist ein Freund des Opfers, der Guineer Mouctar Bah zu erwähnen, dessen unnachgiebiger Kampf dafür gesorgt hat, dass dieser Fall bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist.

Die Doku «Warum verbrannte Oury Jallow» lässt viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen, darunter auch erstmals einen leitenden Beamten des Dessauer Reviers. Wie ist es gelungen, diese Beteiligten zu überzeugen, ihre Sicht der Dinge öffentlich zu machen?
Anna Herbst:
In unserer Recherche haben wir die Mitschriften der Gerichtsverfahren im Fall Oury Jalloh gelesen. Dort hat 2007 der damalige Leiter des Revierkriminaldienstes in Dessau, Hanno Schulz, als Zeuge ausgesagt und die zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit der Polizei kritisiert. Er hätte gerne in den Medien erzählt, wie der Fall Oury Jalloh aus Sicht der Polizei abgelaufen ist. Als Sprecher im Bund Deutscher Kriminalbeamter ist er mit diesem Anliegen sogar bis zum Innenminister von Sachsen-Anhalt gegangen - so hat er uns später erzählt. Doch die Entscheidung war immer, dass die Beamten des Reviers nicht mit den Medien sprechen dürfen. Wir haben ihn dann im Sommer 2023 kontaktiert und er hatte - inzwischen ist er als Polizist pensioniert – immer noch ein großes Interesse daran, den Fall aus seiner Sicht zu schildern. Denn in seiner Wahrnehmung wurde die Polizei im Fall Oury Jalloh oft vorschnell verurteilt. Dem wollte er etwas entgegensetzen.



Wie haben Sie die Balance gefunden, einerseits die Fakten objektiv darzustellen und andererseits die emotionalen Dimensionen des Falls zu beleuchten?
Bence Máté:
Die Fakten, die wir in diesem Fall präsentieren konnten, sorgen von alleine für Emotionen. Obwohl bereits viel über den Fall berichtet wurde, sind wir ohne Vorzeichen und in alle Richtungen offen an die Recherche herangegangen. Worauf wir achten mussten, war, uns an die multiperspektivische Erzählung zu halten, die wir uns bei diesem Projekt auf die Fahne geschrieben haben. Die in der Serie vertretenen Meinungen sind gegensätzlich. Unsere Aufgabe als Filmemacher war es die Recherchen so aufzubereiten, dass die Zuschauer sich ihr eigenes Urteil bilden können.

Die Doku-Serie behandelt komplexe Themen wie institutionelle Machtstrukturen und Rassismus. Wie haben Sie diese Herausforderungen dramaturgisch umgesetzt?
Anna Herbst:
Am Ende war das leichter, als wir es uns zu Beginn vorgestellt hatten. Denn die vier Freunde von Oury Jalloh, die in unserer Serie vorkommen, konnten viel zu dem Thema erzählen. Ihre Geschichten sind voller Erfahrungen mit Rassismus und struktureller Benachteiligung, aber es sind eben auch konkrete und zum Teil sehr emotionale Geschichten aus ihrem Leben, die sich aus dramaturgischer Sicht gut erzählen ließen. Abgelehnte, von Abschiebung bedrohte Asylbewerber gegen Polizei und Staatsanwaltschaften - dieser ungleiche Kampf um Aufklärung ist ein wichtiger Handlungsstrang in der Serie.

Welche Rolle spielten Experten wie Rechtsmediziner und Staatsanwälte bei der Rekonstruktion der Ereignisse und der Präsentation alternativer Hypothesen?
Bence Máté:
Was ich an dieser Stelle sagen kann, ist, dass Brandexperten und Rechtsmediziner den von Polizei und Justiz etablierten Ablauf von Oury Jallohs Tod massiv in Frage stellen.

Der Fall ist von widersprüchlichen Zeugenaussagen und nicht verfolgten Spuren geprägt. Gab es während Ihrer Recherche neue Erkenntnisse oder bisher unbeachtete Details, die Sie überraschten?
Anna Herbst:
Wir haben viele Seiten an Ermittlungsakten, Gerichtsurteilen und Gutachten gelesen. So konnten wir einen tiefgehenden Blick in die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft bekommen. Besonders interessant war für uns, die Polizeibeamten, die am 7. Januar 2005, mit Oury Jalloh zu tun hatten, persönlich zu treffen. Ganz anders als wir erwartet hatten, waren fast alle von ihnen bereit, mit uns ein Hintergrundgespräch zu führen. Zwar waren sie einerseits oft der Meinung: nach so vielen Jahren muss auch mal Schluss sein! Warum muss man immer wieder auf diesem Fall herumreiten? Andererseits hatten sie dann doch oft ein Bedürfnis, über die Geschehnisse dieses Tages zu sprechen. Sie alle finden, dass sie sich nichts haben zu Schuld kommen lassen. Das wird durch die Brandgutachten und die Erkenntnisse der Rechtsmediziner in Frage gestellt. Öffentlich vor der Kamera wollten sich dann die wenigsten Polizisten äußern und für diejenigen, die eine Bereitschaft zum Interview angedeutet haben, haben die zuständigen Behörden keine Freigabe erteilt, um mit Medien zu sprechen.

Wie viel Einfluss hatten öffentliche Debatten, Proteste und der jahrelange Kampf von Aktivisten auf die Gestaltung der Dokumentation?
Bence Máté:
Es ist diesem öffentlichen Druck zu verdanken, dass der Fall nach so vielen Jahren trotz Abschluss der juristischen Mechanismen in Deutschland immer noch aktuell ist. Dies hat natürlich maßgeblich dazu beigetragen, darüber eine sechsteilige Serie machen zu können. Falls die Frage darauf abzielt, ob wir uns von den Kämpfenden und Protestierenden haben beeinflussen lassen, lautet meine Antwort: Nein. Rein dramaturgisch gesprochen hat - zum Beispiel - die wiederkehrende Darstellung der bis heute jährlich organisierten Demonstrationen am Todestag von Oury Jalloh jedoch dabei geholfen, die ungebrochene Signifikanz des Falls Oury Jalloh zu verdeutlichen.

Warum haben Sie eine sechsteilige Doku-Serie statt einen 90-minütigen Dokumentarfilm entwickelt?
Anna Herbst:
Der Fall Oury Jalloh ist wahnsinnig umfassend. Da ist einerseits das eigentliche Geschehen am 7. Januar 2005 und dann - mindestens genauso wichtig - alles, was danach passiert oder auch nicht passiert ist. All die Erkenntnisse, die wir heute dazu haben, sind ja erst nach und nach rausgekommen, durch Ermittlungen und Gerichtsverfahren, aber auch durch private Initiativen, die eigene forensische oder brandtechnische Gutachten beauftragt haben. Unter anderem durch deren Ergebnisse wurde der Fall immer brisanter, weil immer offensichtlicher wurde, wie unzureichend Polizei und Justiz hier gearbeitet haben. Gleichzeitig stieg der Druck der Öffentlichkeit, nicht nur regional, sondern bundesweit, teils sogar international. Wir haben also über den zeitlichen Verlauf eine enorme Entwicklung, die auch an den Charakteren der Serie zu spüren ist, die zum Teil als geduldete Asylbewerber in Dessau 2005 den staatlichen Institutionen nahezu machtlos gegenüberstanden und es am Ende doch geschafft haben, dass der Tod ihres Freundes bis heute nicht vergessen wird – um all diese Entwicklungen angemessen darzustellen, war eine serielle Erzählung über mehr als 180 Minuten die beste Form.

Glauben Sie, dass der Fall Oury Jalloh ohne diese Doku-Serie irgendwann aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden wäre? Und wie vertrauenswürdig ist die Polizei ohne die freie Presse?
Anna Herbst:
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt viele Journalist:innen und auch Aktivist:innen, die sich mit dem Fall beschäftigt haben oder immer noch beschäftigen. Ihre Recherchen, zum Beispiel von Pagonis Pagonakis vom WDR oder von Margot Overath, die einen Podcast und ein Buch dazu veröffentlicht hat, waren eine sehr wichtige Grundlage für unsere Arbeit. Der Fall ist inzwischen zu groß und zu relevant, um vergessen zu werden. Dennoch ist unsere Serie die erste umfassende, filmische Aufarbeitung des Falls, so dass wir hoffen – auch durch eine prominente Platzierung in der Crime-Time der ARD-Mediathek - damit auch Zuschauer:innen zu erreichen, die bisher wenig oder nichts über den Fall gehört haben.

Wie hat die Arbeit an dieser Dokumentation Ihr eigenes Verständnis von institutioneller Verantwortung und den Umgang mit Rassismus und Polizeigewalt verändert?
Bence Máté:
Besonders eindrücklich war für uns zu sehen, wie entscheidend unabhängige Recherche und öffentlicher Druck sein können, um Fälle, in denen es möglicherweise um institutionellen Rassismus und Polizeigewalt geht, ans Licht zu bringen. Diese Erfahrungen haben uns darin bestärkt, wie wichtig es ist, einen differenzierten Blick zu bewahren und dennoch die richtigen Fragen hartnäckig zu stellen. Über den Fall Oury Jalloh muss weiterhin gesprochen werden.

Ich bedanke mich für das Gespräch!

«Warum verbrannte Oury Jalloh?» ist seit 27. November 2024 in der ARD erschienen. Die Doku-Serie ist ab Montag, den 6. Januar 2025, auch im WDR Fernsehen zu sehen.

Kurz-URL: qmde.de/156877
Finde ich...
super
schade
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelFilme des Grauens: «Flight 23»nächster ArtikelRocket Raccoon - alles andere als ein Waschbär!
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief




E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung