Was erwartet uns in dem Undone-Podcast «Geteiltes Leid»?
Olga Herschel: Wir erzählen die Geschichten von Menschen, die Opfer einer Verschwörungserzählung geworden sind. Dies jedoch an vermeintlich seriösen und geschützten Orten, wie Psychotherapiepraxen und Kliniken. Über die Schicksale von Leonie und ihrer Familie, aber auch anderen Betroffenen zeigen wir, wie diese Verschwörungserzählung seit Jahrzehnten in Deutschland kursiert – und noch immer ziemlich viele Anhänger:innen hat. Weil das Ganze stellenweise schier unglaublich klingt, hat der Podcast oft den Charakter eines Psychothrillers.
Wie entstand die Idee, das Thema ritueller Missbrauch und Mind Control in deutschen Psychotherapiepraxen zu untersuchen, und was hat euch dazu motiviert?
Sören Musyal: Die „Satanic Panic“, eine Art Massenpanik in den 1980er Jahren in den USA, hat uns im Team schon länger beschäftigt. Psychotherapeut:innen haben dabei schon immer eine wichtige Rolle gespielt – als Multiplikator:innen einer Verschwörungserzählung. Irgendwann haben wir dann den Blick nach Deutschland gewagt und festgestellt: Das ist keinesfalls ein Phänomen, das ausgestorben ist. Das gibt es auch hier – auch heute noch.
Welche Herausforderungen gab es bei der Recherche zu einem so sensiblen und kontroversen Thema? Gab es Hürden, die ihr erst überwinden musstet, um Zugang zu Informationen zu erhalten?
Sören Musyal: Die größte Herausforderung ist der sensible Umgang mit den Betroffenen schädlicher Psychotherapien. Scham spielt hier eine große Rolle, aber auch verletztes Vertrauen. Sie haben Hilfe in einer Therapie gesucht und dadurch dann Leid erfahren. Wir konnten nicht alle, mit denen wir gesprochen haben, überzeugen, ihre Geschichten on the record zu teilen. Gleichzeitig sind fast alle in diesem Feld sehr sehr vorsichtig. Es gibt ein großes Misstrauen und es kostet Zeit, Zugang zu bekommen.
Im Podcast erzählt ihr unter anderem die Geschichte von Leonie, deren Psychotherapeutin bei ihr eine dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert hat. Welche Rolle spielte die Psychotherapie in ihrem Leben und in den Konflikten mit ihrer Familie?
Olga Herschel: Leonie hatte schon vor ihrer verhängnisvollen Begegnung mit ihrer Therapeutin eine lange psychische Krankheitsgeschichte. Therapien und Klinikaufenthalte waren Alltag für sie und ihre Familie. Mit all den Problemen, die damit einhergehen. Die Diagnose "dissoziative Identitätsstörung” veränderte trotzdem alles, weil die neue Therapeutin von Anfang an davon überzeugt war, dass die Ursache in jahrelangem rituellem Missbrauch liegen müsse. Erst dadurch wurden Leonie und ihre Familie vollends auseinandergerissen.
Wie seid ihr mit Leonies Eltern, Ärztinnen und anderen beteiligten Personen in Kontakt gekommen? Waren diese von Anfang an bereit, ihre Geschichte zu teilen?
Sören Musyal: Wir haben verschiedene Beratungsstellen angefragt, aber auch z. B. Klinikbewertungsportale gecheckt und dort Menschen angeschrieben. Leonies Eltern waren von Anfang an bereit, ihre Geschichte zu erzählen – immer und immer wieder. In unserem Podcast kommen auch andere Betroffene zu Wort, unter anderem eine junge Frau, die monatelang an einer Therapie teilnahm, die sie heute als Fehltherapie bezeichnet. Alle Betroffenen, die in unserem Podcast ihre Geschichte erzählen, haben wichtige Unterlagen mit uns geteilt, ohne die wir deren Angaben nie hätten überprüfen und erzählen können – dafür sind wir ihnen sehr dankbar. Auf der Seite der Verantwortlichen, den Therapeut:innen und Ärzt:innen, waren einige gesprächsbereit – bis es konkret um Leonie gehen sollte. Aber das kann man dann im Podcast hören.
Ihr sprecht von einem "moralischen Dilemma". Was genau meint ihr damit, und wie habt ihr persönlich dieses Dilemma bei der Erstellung des Podcasts erlebt?
Olga Herschel: Es ist ein langer, wichtiger und weiterhin andauernder gesellschaftlicher Kampf, Betroffenen sexualisierter Gewalt zu glauben. Während unserer Arbeit an dem Podcast wurde der Fall Pélicot publik – da wurde par exellence demonstriert: Selbst wenn handfeste Videobeweise vorliegen, müssen sich Frauen noch immer Fragen im Gerichtssaal gefallen lassen, die ihre Schilderungen in Frage stellen.
Sobald man über rituelle Gewalt berichtet, geht es natürlich auch um Menschen, die berichten, rituelle Gewalt erlebt zu haben. Da es für rituelle Gewalt keine kriminologischen Belege gibt, ist der Vorwurf, Opfern nicht zu glauben, leicht gezückt. Das war unser Dilemma und deshalb haben wir immer wieder mit uns gerungen: Wie kann man das rechtfertigen? Wie stellen wir sicher, dass es nicht darum geht, Berichte von Opfern sexualisierter Gewalt grundsätzlich anzuzweifeln? Eine der Antworten auf diese Fragen ist für uns: Die Verantwortung für die Behandlungen und die Erzählungen rund um rituelle Gewalt liegt nicht bei den Patient:innen oder Betroffenen, sondern bei den Therapeut:innen und Ärzt:innen. Und da finden sich in bestimmten Kreisen nachweislich Verschwörungsinhalte. Dieser Kritik müssen sich die Verantwortlichen aus unserer Sicht stellen.
Inwiefern zeigt euer Podcast, wie Verschwörungstheorien Schaden anrichten können, und welche Auswirkungen haben diese Theorien konkret auf Betroffene wie Leonie?
Sören Musyal: «Geteiltes Leid» zeigt, wie fest verankert Verschwörungserzählungen in unserer Gesellschaft sind. Dabei muss es nicht immer das „volle Programm“ sein, etwa die Geschichte von Satanisten, die Kindern in Kellern verjüngendes Serum abzapfen, wie es Anhänger:innen von QAnon glauben. Manchmal sind es nur einzelne Elemente, z. B. dass Täterkreise aus mächtigen gesellschaftlichen Positionen stammen würden. Wenn es um bestimmte Formen von ritueller Gewalt geht, ist der Schaden sehr unmittelbar. Leonie hatte schon vor dieser Diagnose große psychische Probleme. Diese Probleme wurden dann aber nicht angegangen, sondern – im Gegenteil – verstärkt. Bis hinein ins Lebensbedrohliche.
Welche Rolle spielt die Politik in der Geschichte von «Geteiltes Leid»? Wie kann oder sollte sie auf solche Missstände im Gesundheitssystem reagieren?
Olga Herschel: Es gibt politische Stellen, die für Fragen des sexuellen Missbrauchs zuständig sind: z. B. das Bundesfamilienministerium oder die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. In Teilen sitzen auch hier Menschen, die von der Existenz ritueller Gewalt in klandestinen Kulten überzeugt sind. Dementsprechend fließen auch Steuergelder in diesen Bereich. Die so finanzierten Projekte sorgen dann wiederum dafür, dass dem Phänomen Bedeutung zugemessen wird. Und so legitimiert sich das Ganze selbst. Hinzu kommt das Gesundheitssystem mit vielen Institutionen, wie Krankenkassen, Landespsychotherapeutenkammern und Ausbildungsinstituten. Sie alle müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie wir Psychotherapie als zurecht geschützten Raum einer Qualitätssicherung unterziehen können, ohne die Schweigepflicht zu verletzen – eine Herausforderung. Gerade sehen wir da aber eher eine große Ratlosigkeit.
Was bedeutet es für euch, dass ein Podcast wie dieser durch das Programm "Demokratie im Netz" gefördert wurde? Inwiefern trägt die Produktion zur Demokratiebildung bei?
Sören Musyal: Undone steht für investigativen Journalismus. »Geteiltes Leid« ist ein dezidiert investigativer Podcast. Das ist nicht das typische Format für politische Bildung. Dabei ist guter Journalismus immer auch Demokratiebildung. Deshalb sind wir Arbeit und Leben Thüringen sehr dankbar für das Vertrauen: Es ist nicht selbstverständlich, eine solche investigative Geschichte in einem so kontroversen Feld zu ermöglichen.
Für uns war aber klar, dass sich an diesem Thema sehr deutlich zeigen lässt, wie eine Verschwörungserzählung entstehen und in den Köpfen festsetzen kann. Viele Dinge, die wir hier beobachten können, sind verallgemeinerbar: Wieso glauben Menschen an Verschwörungstheorien? Wieso lassen sie sich kaum vom Gegenteil überzeugen? Und es zeigt sich eben: Verschwörungstheorien richten Schaden an.
Welche Erkenntnisse oder Überraschungen haben euch bei der Produktion des Podcasts am meisten bewegt oder erschüttert?
Olga Herschel: Es war schon überraschend, wie weitreichend das Netzwerk ist, das wir im Podcast beschreiben – und doch nur anreißen können. Erschütternd war vor allem, wie kritikresistent manche derjenigen sind, die an dieses Narrativ glauben. Durch schädliche Therapien wird viel Leid bei Betroffenen und ihren Familien verursacht. Das wollen aber viele einfach nicht sehen. Stattdessen spielen sie das Leid verschiedener Betroffener gegeneinander aus.
Habt ihr Reaktionen aus der Fachwelt erhalten, speziell aus der Psychotherapie- und Psychiatrieszene? Welche Resonanz habt ihr erwartet, und welche Reaktionen habt ihr bereits bekommen?
Sören Musyal: Die Fachwelt wird in diesem Kontext gerne als “gespalten” dargestellt. Letztlich ist das aber nicht der Fall. Es ist wie beim Klimawandel: Die Lage ist eigentlich klar und es ist ein kleiner Teil, der anders argumentiert. Viele Personen aus der Fachwelt waren dementsprechend froh, dass wir uns kritisch mit der Thematik auseinandersetzen wollen. Andere, die vom Verschwörungsnarrativ überzeugt sind, haben eher ablehnend reagiert – bis hin zum Vorwurf, wir wären Teil von Täterkreisen. Das spricht dann aber wohl auch für sich.
Danke für Ihren Input!
«Geteiltes Leid» kann auf allen Podcast-Plattformen angehört werden.
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