Hallo Frau Ketikidou! Sie sind die zentrale Figur in dem neuen «Großstadtrevier»-Special „Im Moment der Angst“. Wovon handelt der Spielfilm?
Im Kern geht es um die Frage: Was passiert, wenn ein Mensch in einer Extremsituation komplett die Kontrolle verliert? Harry wird in einem Einsatz mit einer Brutalität konfrontiert, die sie körperlich und seelisch an ihre Grenzen bringt. Gleichzeitig hinterfragt der Film auch gesellschaftliche Strukturen – ein Gesundheitssystem, das am Limit arbeitet, und Menschen, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen. Es ist ein Krimi, aber auch ein sehr menschliches Drama.
Harry Möller steht in diesem Film unter enormem psychischen Druck. Wie war es für Sie, diese emotionale Extremsituation darzustellen?
Eine spannende Herausforderung, aber genau das liebe ich an meinem Beruf. Harry ist sonst so stark und souverän, aber hier erleben wir sie gebrochen und verletzlich. Als Schauspielerin habe ich versucht, Harrys innere Reise, die verschiedenen Stadien ihrer emotionalen Transformation, so wahrhaftig wie möglich darzustellen. Ich musste mich selbst fragen: Wie würde ich solch eine psychische Ausnahmesituation meistern? Und ehrlich gesagt muss ich zugeben: Ich persönlich möchte das nicht durchleben müssen.
Der Film zeigt Harry von einer sehr persönlichen Seite. Was hat Sie daran besonders gereizt?
Diese Verletzlichkeit, die sonst oft hinter der Professionalität verborgen bleibt. Harrys innerer Kampf, als ihre Souveränität kippt und ihre typische Polizisten-Maske fällt, hat mich besonders gereizt. Plötzlich wird sie selbst ihr größter Feind. Diese Brüche und Widersprüche in einer Figur zu spielen, war spannend – ihre Fehlbarkeit macht sie erst menschlich und nahbar.
Wie haben Sie sich auf die Darstellung eines Schocktraumas und die damit verbundene Amnesie vorbereitet? Gab es besondere Herausforderungen?
Recherche ist für mich ein essenzieller Teil der Schauspielarbeit, vor allem bei so komplexen Themen. Ich habe Fachbücher und psychologische Studien über akute Belastungsreaktionen gelesen, um die Auslöser und Symptome besser zu verstehen. Zusätzlich hatte ich Gespräche mit einer Psychologin, die mir geholfen hat, die unterschiedlichen Stadien eines Schocktraumas nachzuvollziehen – von der Panikattacke bis zur dissoziativen Amnesie. Die Herausforderung war, diese inneren Prozesse authentisch sichtbar zu machen, ohne sie auszusprechen. Harry erklärt sich nicht. Es geht viel um Körpersprache und subtile Nuancen.
Inwiefern unterscheidet sich Ihre Darstellung in einem 90-minütigen Film von der regulären Serie? Gibt es Unterschiede im Spieltempo oder in der Figurenentwicklung?
Definitiv. In der Serie bleibt oft nur wenig Zeit, um in die Tiefe zu gehen – die Geschichten sind kompakter. Während wir im Film Harrys Entwicklung und ihre unterschiedlichen Facetten wirklich ausloten konnten. 90 Minuten erlauben ein langsameres Tempo, ein intensiveres, nachdenklicheres Erzählen, mehr Raum für Emotionen und komplexere Figurenbögen.
Das Special kritisiert das Gesundheitssystem und zeigt auf, wie Profitabilität über Patientenwohl gestellt wird. Warum ist dieses Thema so wichtig, und welche Botschaft möchten Sie den Zuschauern mitgeben?
Das Gesundheitssystem betrifft uns alle, und viele haben bereits die Schattenseiten erlebt – sei es durch überlastete Ärzte, lange Wartezeiten oder bürokratische Hürden. Es geht um die Frage, welchen Wert wir als Gesellschaft dem menschlichen Leben beimessen. Wenn es nur noch um Effizienz und Zahlen geht, bleiben Empathie und Fürsorge auf der Strecke. Das Gesundheitssystem ist ein Spiegel unserer Werte – und ich hoffe, der Film regt zum Nachdenken an, wie wir damit umgehen wollen.
Sie erwähnten die persönlichen Erfahrungen mit Ihrem Vater und dem Gesundheitssystem. Haben diese Erlebnisse Ihre Herangehensweise an den Film beeinflusst?
“Jede Erfahrung prägt einen – aber ich bin Schauspielerin, keine Aktivistin. Ich wollte mit diesem persönlichen Beispiel lediglich zeigen, wie schnell ein Mensch in einem solchen System unsichtbar werden kann. Viele kennen diese Wut und Hilflosigkeit, die man empfindet, wenn ein System versagt. Aber meine eigentliche Intention ist es, Harrys Geschichte zu erzählen, nicht meine eigene. Und glücklicherweise geht es meinem mittlerweile 86-jährigen Vater dank seiner guten Ärzte wieder gut. Man kann an dieser Stelle also auch mal DANKE sagen.”
Im Film gibt es auch das Thema gesellschaftlicher Abgehängtheit. Wie können Kunst und Filme dazu beitragen, auf diese Problematik aufmerksam zu machen?
Kunst kann Missstände nicht lösen, aber sie kann sensibilisieren und Menschen bewegen. Filme wie dieser können ein Fenster in Lebensrealitäten öffnen, die viele nicht kennen, und Empathie schaffen. Sie können Menschen, die sich nicht gehört fühlen, eine Stimme geben und uns zwingen, genauer hinzuschauen. Natürlich löst ein Film keine Probleme, aber er kann Denkanstöße geben und Diskussionen anstoßen. Und das ist schon ein wichtiger erster Schritt.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Franziska von Harsdorf (Rettungssanitäterin Mirja Grabowski) erlebt, die eine zentrale Rolle im Schicksal Ihrer Figur spielt?
Franziska hat eine tolle Präsenz – sie bringt eine Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit mit, die unsere Szenen intensiviert hat. Überhaupt hat die besondere Konstellation des Casts, mit Kollegen wie Andreas Anke, Torben Liebrecht, Janina Elkin und Eric Cordes, enorm zu der filmischen Intensität beigetragen. Ich fand die Zusammenarbeit sehr inspirierend.
Der Film scheint emotional und körperlich sehr fordernd gewesen zu sein. Wie haben Sie die Balance zwischen Arbeit und Erholung gefunden?
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich war 19 Drehtage lang im Tunnel – vollkommen absorbiert. Im Nachhinein kann ich mich, außer an ein paar intensive Szenen, an nicht mehr viel erinnern. Soweit zum Thema Amnesie, um mal im Kontext zu bleiben. Von Balance kann da also keine Rede sein. Ich dachte mir: Erholen kann ich mich später, jetzt bin ich erstmal im Dreh-Flow.
Sie arbeiten seit vielen Jahren am «Großstadtrevier». Was bedeutet diese Serie für Sie, und wie war es, an einem so intensiven Film-Special mitzuwirken?
Es ist wie nach Hause kommen. Ich liebe dieses Team, diese Geschichten und unsere Zuschauer. Über die Jahre hat sich eine Vertrautheit entwickelt, die einzigartig ist. Dieses Special hat uns als Team ermöglicht, noch tiefer in unsere Figuren und Geschichten einzutauchen. Es war ein intensiver und erfüllender Prozess, der sich gelohnt hat. Und für mich ist es ein großes Dankeschön an alle, die uns über die Jahre treu geblieben sind.
Regisseur Florian Gottschick hat den Film inszeniert. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm, und was hat er Ihnen als Schauspielerin ermöglicht?
Florian ist ein wunderbarer Regisseur, weil er ein Gespür für Emotionen und Nuancen hat. Ich mag seinen sehr sensiblen und respektvollen Umgang mit uns Schauspielern. Er gibt einem das Gefühl, sicher zu sein, und schafft gleichzeitig Raum für Experimente. Seine Regie war mein Anker in diesem anspruchsvollen Film.
Nach über 35 Jahren im Polizeidienst hat Harry unzählige Einsätze erlebt. Gab es während Ihrer Zeit beim «Großstadtrevier» Momente, die Sie besonders geprägt haben oder die Sie nicht vergessen werden?
In meinen Anfängen beim «Großstadtrevier» habe ich oft echte Zivilpolizisten auf ihren Schichten begleitet, um den Alltag und die Herausforderungen dieses Berufs besser zu verstehen. Die Nächte auf Streife, vor allem an den Wochenenden, waren aufregend. Ich habe da wirklich krasse Dinge erlebt.
Eines Abends wurden mehrere Einheiten zu einem Einbruch in einer Siedlung in Lurup gerufen. Wir Zivilen – sprich Holger und ich – waren als Erste vor Ort. Als wir das Treppenhaus hochliefen, kam uns der fliehende Einbrecher mit einem riesigen Bolzenschneider in der Hand entgegen. Und ausgerechnet mir lief er direkt in die Arme.
Was mich bis heute beschäftigt, ist nicht die Situation selbst, sondern meine Reaktion darauf. Ich spürte keine Angst. Ich benahm mich wie eine Polizistin, schrak nicht zurück, fühlte mich – völlig irrtümlich – unverwundbar. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich Realität und Fiktion verwechselt hatte. Im Drehbuch bist du immer der Held – du kannst nicht verlieren. Aber im echten Leben gibt es keinen doppelten Boden. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt. Seitdem achte ich darauf, dass man meiner ‘Harry’ die gebührende Anspannung und Achtsamkeit vor Gefahrensituationen ansieht, besonders in Showdowns. Aus einem tiefen Respekt vor den Menschen, die in gefährlichen Berufen jeden Tag mit dem Unvorhersehbaren rechnen müssen.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
Das «Großstadtrevier»-Special „Im Moment der Angst“ läuft am Montag, den 6. Januar 2024, um 20.15 Uhr.
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