«Tatort: Verblendung»
- BESETZUNG: Richy Müller, Felix Klare, Jürgen Hartmann, Anna Schimrigk, Leila Abdullah, Christopher Franken, Christian Koerner, Kais Setti, Jessica McIntyre
- MUSIK: Sven Rossenbach / Florian van Volxem
- KAMERA: Stefan Sommer
- DREHBUCH: Katharina Adler, Rudi Gaul
- REGIE: Rudi Gaul
Um Bootz und die Geiseln zu befreien, steht Thorsten Lannert vor einer heiklen Aufgabe: Er soll beweisen, dass der Staat Baden-Württemberg im Gefängnis Stammheim einen Häftling aus politischen Gründen hat ermorden lassen. Das ist die Forderung der Geiselnehmer. Doch alles beginnt unscheinbar: Lannert erhält eine Einladung zu einer Filmpremiere. Eine Dokumentation feiert Uraufführung, die anscheinend im Demokratieunterricht eingesetzt werden soll. Es ist also nicht unbedingt mit Kontroversen zu rechnen ... Da auch der Polizeipräsident anwesend sein wird, soll ein „normaler“ Polizist für gute PR sorgen. Lannert hat jedoch ein Rendezvous und überredet seinen Kollegen Bootz, statt seiner zu gehen – immerhin gibt es Schnittchen. Was dann geschieht, ist bereits bekannt. Ein Mann und eine Frau dringen in den Saal ein und nehmen die Anwesenden als Geiseln. Zumindest die bekannten Namen auf der Gästeliste wie eine TV-Journalistin, ein Staatssekretär, der Polizeipräsident, aber auch der Vertreter einer rechtspopulistischen Partei dürfen den Saal nicht verlassen. Nach dem Schusswechsel ist der Geiselnehmer verletzt. Die Frau mag derweil nervös agieren, es ist jedoch offensichtlich, dass sie weiß, wie man mit Waffen umgeht, Türen verbarrikadiert, den Raum unter Kontrolle behält. Sie verlangt die Offenlegung einer geheimen Todesliste. Die „staatskritischen“ Personen, die auf ihr stehen, sollen ermordet werden. Und einer von ihnen ist bereits tot.
Die Terroristen entstammen einem Milieu, das überzeugt ist, dieser Staat sei von „globalistischen“ Einflüssen unterwandert und die Demokratie lediglich eine Fassade ohne echte Legitimation. Sie glauben, gegen ein System zu kämpfen, das in ihren Augen korrupt und feindlich ist. Ihre Ideologie speist sich aus Verschwörungstheorien und einem tiefen Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Diese Überzeugungen treiben sie zu einem fanatischen Handeln, das sie als gerechtfertigten Widerstand betrachten. Lannert sieht sich bald in einer doppelten Funktion. Die Terroristin hatte seinen Namen auf einer Gästeliste. Sie wusste, wer im Kino sitzen würde. Jetzt, da er draußen ist, akzeptiert sie ihn als Gesprächspartner, da sie davon ausgeht, dass er alles tun wird, um Bootz zu retten.
Tempo
«Tatort: Verblendung» ist kein pädagogisches Erziehungsfernsehen, das dem Publikum in typischer «Tatort»-Tradition am Sonntagabend noch einmal eine Lehrstunde in Sachen Demokratieerziehung präsentieren möchte. Ganz im Gegenteil – die Inszenierung wendet sich mit fast stoischer Gleichgültigkeit der Frage zu, warum die Terroristen tatsächlich zu dem geworden sind, was sie sind. Es geht nicht um das moralische Heben des Zeigefingers, sondern um die schiere Unmittelbarkeit der Geschehnisse in dem Kino. Da sind Menschen mit Waffen und einem kruden Weltbild; diese haben schon einen Mord begangen, und es gibt keinen Zweifel daran, dass sie wieder töten werden, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Und an dieser Stelle kommt nun Richy Müllers Lannert ins Spiel. Die Terroristin behauptet also, es gebe eine Todesliste. Eine Namensliste, die Lannert tatsächlich bald in Händen hält und auf der sich ein Name mittlerweile tatsächlich mit einem Kreuz ziert. Der Tote, so erfahren wir, ist in Stammheim an einem allergischen Schock verstorben – eine Todesursache, die in ihrer Schlichtheit fast absurd wirkt. Natürlich wurde der Vorfall untersucht: Der Mann, der an einer hochgradigen Nussallergie litt, hat sein Mittagessen wohl mit einem verunreinigten Löffel gegessen. Ein Unfall, so die lapidare Erklärung. Die Gerichtsmedizin hat entsprechende Sporen gefunden, andere Möglichkeiten wurden gar nicht erst in Betracht gezogen. Lannert ist gezwungen, andere Möglichkeiten nicht auszuschließen – und stolpert über Indizien, die ihn nachdenklich stimmen.
Und hier entsteht der zweite, subtilere Spannungsbogen neben der Geiselnahme: Was, wenn der Gefangene tatsächlich ermordet worden ist?
Regisseur Rudi Gaul fokussiert sich im Rahmen seiner Inszenierung ganz und gar auf das Voranschreiten der Handlung. Das enge Zeitkorsett, in dem sich Lannert bewegt, ist der Rhythmus, der den Takt vorgibt. Sicher ist es die Terroristin, die diesen Rahmen setzt, aber Lannert muss sich in ihm bewegen. Das Drehbuch von Katharina Adler, die ihr Stuttgarter «Tatort»-Debüt 2021/22 zusammen mit Rudi Gaul und dem Spielfilm «Videobeweis» gegeben hat, ist darüber hinaus schlau genug, sich nicht in Nebenhandlungen etwa zur Rolle des Verfassungsschutzes in dieser Geschichte zu verfangen. Man fragt sich schnell: Wie konnte es passieren, dass diese Terroristen, die offenbar bestens in ihrer Szene vernetzt sind, so unbehelligt ihren Plan umsetzen konnten? Es braucht zwei, drei Sätze, die dies nachvollziehbar und in sich schlüssig erklären – und fertig ist die Geschichte.
Fazit: «Tatort: Verblendung» erweist sich als ein packender Thriller, der sein Tempo geschickt nutzt, um die Spannung über die gesamte Laufzeit von 90 Minuten hochzuhalten. Ohne aufwendige Effekte oder laute Action setzt der Film auf eine dichte Atmosphäre, die durch die unmittelbare Bedrohung und das kluge Drehbuch getragen wird. Die reduzierten Mittel machen die Inszenierung umso intensiver, da die Handlung und die Figuren im Fokus bleiben. So entsteht ein fesselndes Stück Spannungskino, das beweist, dass ein Thriller auch ohne großen Rabatz nachhaltig wirken kann.
Am Sonntag, 19. Januar 2025, 20,15 Uhr, Das Erste
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