Serientäter

«A Better Place»: Reizvolles Drama, unglaubwürdige Ausgangssituation

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Eine Stadt im Ausnahmezustand: Rheinstadt wird sein Gefängnis schließen, und die Strafgefangenen kommen auf freien Fuß. Sie werden im Rahmen eines Pilotprojekts begleitet, aufgehoben werden ihre Strafen nicht. Sie werden nur nicht mehr eingesperrt. Es ist ein Experiment, und es findet nicht gegen den Willen der Mehrheit der Rheinstädter statt!

Es bleibt unklar, welche Zielgruppe der WDR mit der achtteiligen Serie erreichen möchte. «A Better Place» hat zwar seine Stärken, doch die acht Episoden wirken insgesamt zu lang, und die Grundprämisse ist wenig überzeugend. Laut der Handlung wird das Experiment in Rheinstadt, das die Schließung des Gefängnisses und die Freilassung aller Insassen vorsieht, angeblich von 70 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Diese Annahme erscheint jedoch unrealistisch. In Deutschland liegt der Fokus des Justizsystems auf Resozialisierung und nicht auf bloßer Bestrafung durch Wegsperren, wie es in vielen US-Bundesstaaten der Fall ist. Die Rückfallquote in Deutschland liegt bei etwa 34 Prozent, im Vergleich zu 50 Prozent in den USA. Damit ist das deutsche System in gewisser Weise erfolgreich – aber auch eine Rückfallquote von 34 Prozent zeigt, dass viele ehemalige Straftäter erneut kriminell werden. Angesichts dieser Zahlen und der Herausforderungen, die das Programm in Rheinstadt mit sich bringt, fällt es schwer, die breite Zustimmung der Bevölkerung zur Freilassung aller Straftäter – darunter auch solche mit schweren Vergehen wie sexueller Gewalt oder organisierter Kriminalität – nachzuvollziehen. Die Akzeptanz eines solchen Projekts, selbst in gesellschaftlichen Kreisen, die kritisch gegenüber dem Justizsystem eingestellt sind, würde spätestens dann auf Widerstand stoßen, wenn Täter mit schweren Straftaten in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen würden – vor dem Abschluss einer Therapie, einer langen Haftstrafe, et cetera.

Die zentrale Schwäche der Serie liegt damit weniger in der Idee eines Experiments, sondern in der Frage, ob die dargestellte Ausgangssituation innerhalb der Handlung glaubwürdig aufgebaut ist. Eine Fiktion muss nicht unbedingt den Realitätscheck bestehen, doch sie muss in sich geschlossen funktionieren und eine Welt erschaffen, die für das Publikum nachvollziehbar bleibt. Das ist hier nicht der Fall, was es schwierig macht, der Serie wirklich zu folgen. Eine Serie, deren Dreh- und Angelpunkt die Figur der Petra Schach darstellt, die hier eine Art Lebenswerk zur Vollendung bringen möchte. Die Juristin hat in ihrem Berufsleben sowohl die positiven als auch die negativen Seiten des Regelvollzugs kennengelernt, und es ist offensichtlich, dass die negativen Erfahrungen überwiegen. Auf jeden Fall hat sie es geschafft, die Stadt Rheinstadt für das Experiment zu gewinnen. Diese Petra Schach ist vielleicht die Figur, um die sich das Figurenuniversum kreist, aber eine Sympathieträgerin ist sie nicht. Sie, die Kämpferin für ein besseres Justizsystem, lässt Kritik an sich abperlen, nimmt sie oftmals nur zur Kenntnis. Es gibt sogar einen Moment in der Serie, in dem sie ein schwerwiegendes Problem unter den Teppich kehrt. Diese Petra Schach, von Maria Hoffstäter mit Wiener Charme verkörpert, sieht sich selbst als eine Gute, die die Welt zum Besseren verändern will. Doch je mehr wir sie kennenlernen, desto mehr entpuppt sie sich auch als eine Fanatikerin. Fanatismus trägt nicht zwingend einen Sprengstoffgürtel oder feiert von politischen Bühnen herab Niedertracht und Verachtung. Nein, Fanatismus gibt es in vielen Schattierungen, und auch eine Juristin, die nur das Beste will, kann – auf ihre Art und Weise – fanatisch agieren.

Fanatismus bedeutet eben auch, von einer Idee derart besessen zu sein, dass jegliche Kritik als Angriff auf die eigene Person gewertet wird. Ihr Glück ist der junge, dynamische Bürgermeister Amir Kaan, ein Politikertyp, der neben seinem agilen Auftreten auch durchaus sein Äußeres gewinnbringend einzusetzen versteht. Kaan ist einer, der nach außen hin über den Parteien steht, ein Schwiegermuttertyp, aber auch ein Anpacker. Hinter den Kulissen ist er natürlich karrierebewusst und sieht hier eine Chance, über die Grenzen der Stadt hinaus zu punkten.

Und so wird das Gefängnis geschlossen. Alle Insassen müssen sich beim Programm Trust regelmäßig melden, es stehen Gespräche mit Opfern auf dem Plan, und sie müssen bereits Gegenleistungen erbringen. Andererseits sorgt das Programm, wenn nötig, für Wohnungen und Arbeit. Der junge Nader (charmant: Youness Aabbaz) rückt an diesem Punkt ein wenig emotional ins Zentrum der Geschichte. Einen Überfall hat er begangen. Jetzt will er draußen in einem Autohaus arbeiten und irgendwann sein eigenes Autohaus eröffnen. Das alles klingt erst einmal großmäulig, aber im Verlauf der Geschichte zeigt sich, dass er es ernst meint. Im Gefängnis hat er seinen Schulabschluss nachgeholt, und ja, er hat erkannt, wohin ihn der Weg, den er gegangen ist, führen würde – würde er ihn weiter verfolgen. Nader hat Spaß an seiner Ausbildung, sein Auftreten ist freundlich, und den Erlass seiner Strafe nimmt er als eine Chance zum Neuanfang wahr. Da es nie einen Zweifel daran gibt, dass Nader sich ernsthaft bemüht, den richtigen Weg zu gehen, wird er zum emotionalen Zentrum der Geschichte. Nader ist jemand, der aufgrund äußerer Umstände, falscher Freunde und auch falscher Nachsicht auf die schiefe Bahn geraten ist, doch seine Bemühungen wirken immer authentisch. Nader zeigt aber auch das Problem des Programms: Was, wenn das Umfeld jemanden wie Nader nicht in Ruhe lässt? Seine eigene Schwester versucht, ihn wieder in die Kriminalität zu führen, seine alten Freunde (die er nicht mehr als solche bezeichnet) wollen ihn wieder in ihre Mitte holen. Ja, Nader könnte ein Erfolg für das Projekt werden – aber nicht in seiner alten Stadt. Er müsste raus, irgendwohin, wo er unvorbelastet neu beginnen könnte. Diesen spannenden Aspekt können wir als Zuschauerinnen und Zuschauer durchaus erkennen, in der Serie aber spielt dieser Aspekt für die Projektbegleiter keine Rolle. Seltsam ist das schon.

Ein weiteres Problem der Serie ist jedoch, dass es unter den Straftätern, die dem Publikum präsentiert werden, keine wirklich bösen, verkommenen oder soziopathischen Typen gibt. Zumindest sind sie das nicht mehr. Stattdessen wirken sie alle wie Opfer äußerer Umstände. Sogar die Figur eines Sexualstraftäters, der sich an Kindern vergangen hat, bleibt vage und unsicher. Figuren, die sich in ihrer Kriminalität laben und keinerlei Interesse an einem Leben in Anstand und Würde hegen, gibt es durchaus – das gesamte alte Umfeld von Nader besteht aus solchen Typen. Was wiederum eine Frage aufwirft: Wenn die Insassen durch ihre Haftstrafen tatsächlich beginnen, zu reflektieren, wie schädlich ihr Verhalten für ihr Leben und das ihrer Opfer war, warum gilt das Gefängnis dann als ein Ort, den es zu überwinden gilt? Bei Nader hat die Haftstrafe jedenfalls eine Wirkung gezeigt…

«A Better Place» mag es ja gut meinen, doch die Ausgangssituation ist wenig plausibel, und die Widersprüche, die sich derweil den Zuschauern etwa über eine Figur wie Nader offenbaren, werden in der Serie wie erwähnt, eher weniger thematisiert. Darüber hinaus muss der Achtteiler irgendwie auch als Spannungsserie funktionieren. Das versucht die Serie über Figuren wie den von Johannes Kienast dargestellten Ex-Gefangenen Mark Blum, der so gar nicht ins Klischee passen will. Mark hat ein Haus, ist verheiratet, hat zwei Kinder, die auf ihn warten. Von Anfang an ist klar, dass er nicht wegen eines Steuervergehens oder Insolvenzverschleppung eingesessen hat – etwas, das man Männern wie ihm vielleicht noch zutrauen würde. Es muss also etwas vorgefallen sein, das ihn aus der Bahn geworfen hat. Aber was? Das bleibt lange im Dunkeln. Ist es jedoch das, was uns als Zuschauer wirklich interessiert? Ist es nicht eher das Experiment – das langsam aus den Fugen läuft? Irgendwann nämlich nimmt die Serie deutlich an Fahrt auf. Da findet etwa ein Überfall auf einen Juwelier statt, der sich selbst als Unterstützer von Trust verstand, bis ihm eine Waffe an den Kopf gehalten wird.

Es ist nicht der erste Zwischenfall. Ob die Täter aus dem Trust-Programm kommen oder nicht, interessiert immer weniger Menschen. Und so kippt die Stimmung in Rheinstadt. Das Vertrauen, das die Bevölkerung zu Beginn des Experiments aufbrachte, weicht schleichend einer wachsenden Skepsis. Der endgültige Wendepunkt kommt, als ein Teilnehmer des Programms, der wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilt wurde, plötzlich verschwindet. Die Behörden suchen ihn tagelang, doch er bleibt unauffindbar – als dann noch Gerüchte über ihn auftauchen… Bürgermeister Amir Kaan, der sich bislang als visionärer Unterstützer des Experiments inszeniert hat, versucht die Kritik mit beschwichtigenden Worten zu entkräften, er sucht Unterstützung in der Landespolitik, er ist bereit, Posten umzubesetzen. Petra Schach hingegen bleibt stur. Sie verteidigt das Programm mit einer fast schon verstörenden Überzeugung. Rückschläge sind für sie nur Teil des Prozesses. Dass diese Rückschläge Menschen Schaden zufügen können… Ja mei! Schließlich wird eine Liste der Teilnehmernamen an die Presse durchgestochen.



Die Serie nimmt also deutlich dadurch Fahrt auf, dass Trust ein Symbol eines blauäugigen Idealismus wird, das an der Realität zu zerschellen droht. Das ist tatsächlich recht spannend. Die Ränkespiele im Hintergrund, der Versuch, zu retten, was zu retten ist: «A Better Place» entwickelt sich zu einer überraschend derben Kritik an den Diskursbestimmern in diesem Land. Wie etwa der Initiatorin, die nie ein politisches Amt ausgeübt hat, aber im Hintergrund ihr Projekt mit Gönnern, Karrieristen, vielleicht auch verblendeten Idealisten durchgepaukt hat. Im Hintergrund wabbert diese Kritik an den großstädtischen, bürgerlichen Milieus, die über ihre Verbindungen in die Politik, die Medien, die politische Bildung maßgeblich den Diskurs im Land bestimmen, obwohl sie keinesfalls eine Mehrheit darstellen – sich aber als Diskursbestimmer über die Mehrheit erheben.

Dieses unterschwellige Spannungsfeld macht die Serie reizvoll – wenn da nicht die unglaubwürdige Ausgangssituation wäre. Die Behauptung, die Bevölkerung würde ein solches Projekt unterstützen, wirkt schlichtweg nicht plausibel. Die Geschichte spielt eindeutig im Hier und Jetzt und nicht in einer utopischen Welt, die losgelöst von der Realität funktioniert.

Unter dem Strich mag diese Kritik hart erscheinen, besonders angesichts der zweiten Hälfte der Serie, die an Tempo und Brisanz deutlich zulegt. Allerdings verlangt es Geduld, diesen Wendepunkt zu erreichen, denn der Weg dorthin zieht sich beträchtlich.

«A Better Place» ist in der ARD Mediathek abrufbar.

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