Interview

Thomas Berger: ‚Wir werfen „Steine ins Wasser“ und schauen, was sie für Kreise ziehen‘

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Regisseur und Drehbuchautor Berger schildert im Quotenmeter-Interview die Atmosphäre des Filmes. Eigentlich sollte der Urlaub für alle Beteiligten die schönste Zeit des Jahres werden.

«Lillys Verschwinden» erzählt eine emotionale und zugleich hochspannende Geschichte. Was hat Sie an diesem Stoff besonders gereizt – und warum wollten Sie ihn unbedingt verfilmen?
Schon in den «Nordholm»-Zweiteilern haben wir nach Situationen gesucht, die das Leben von Familien, der kleinsten Einheit unserer Gesellschaft, in eine Ausnahmesituationen zwingt. Ein Kind stirbt. Eine ganze Familie verschwindet spurlos. Eine Schülerin wird auf einer Abi-Feier getötet. Solche einschneidenden Geschehnisse bringen das Leben unserer Protagonisten aus dem Gleichgewicht, und damit werden plötzlich Missstände sichtbar, die vorher verborgen geblieben sind. Wir werfen im übertragenden Sinne „Steine ins Wasser“ und schauen, was sie für Kreise ziehen. Innerhalb der Familien, aber auch bei den Menschen um sie herum. Unsere Tochter ist selbst einmal auf einem überfüllten Markt auf Mallorca verloren gegangen. Wir konnten sie glücklicherweise wiederfinden. Aber was wäre passiert, wenn uns das nicht gelungen wäre? In einem fremden Land.

Der Film spielt mit der Angst aller Eltern: das plötzliche Verschwinden eines Kindes. Wie haben Sie es geschafft, diese existenzielle Panik und Verzweiflung authentisch auf die Leinwand zu bringen?
Es war sicher hilfreich, dass fast alle am Film Beteiligten selber Eltern sind. In unseren Köpfen sind sämtliche Szenarien des Drehbuches sofort lebendig geworden. Gerade die Schauspieler konnten sich in die im Buch beschrieben Szenen ohne Mühe einfühlen. Natürlich oft mit einem klammen Gefühl, aber ist das nicht immer so, wenn man solche Extremsituationen realistisch nachstellen möchte? Wobei diese Art von Extremsituation gar nicht so selten vorkommen. 2023 sind 16.500 Kinder (0–13 Jahre) allein in Deutschland vermisst gemeldet worden.

Die Geschichte entwickelt sich von einer Suchaktion zu einem Kriminalfall, in dem die Eltern selbst unter Verdacht geraten. Was macht diesen psychologischen Aspekt für Sie besonders spannend?
Dieser Verdacht wird doch fast in allen Fällen von der Polizei überprüft. Meist stammen Täter aus dem engeren Bekanntenkreis oder sogar aus der Familie. Warum sollte es im Fall eines verschwundenen Kindes anders sein? Es könnte ein Unfall gewesen sein, der vertuscht werden soll. Oder gar eine Straftat. In Spanien gab es einen Fall, bei dem eine Mutter ihr eigenes Kind getötet hat, weil es sie bei einer sexuellen Handlung mit dem Onkel, dem Bruder der Frau, beobachtet hat. Also Inzest. In einem streng katholischen Land. Aber wichtiger noch war uns, dass so ein Verdacht der Polizei für unschuldige Eltern eine unerträgliche Last ist, ein Makel, den sie eventuell nie wieder loswerden. Eine Ausnahmesituation, auch hier.

«Lillys Verschwinden» lebt von seiner Atmosphäre – das Paradies einer sonnigen Urlaubsinsel wird zum Albtraum. Wie haben Sie diese Gegensätze inszeniert und welche Rolle spielte der Drehort dabei?
„Die schönste Zeit des Jahres“: Wir alle freuen uns doch auf die Auszeit, die wir uns von einem stressigen Alltag gönnen dürfen. Niemand rechnet damit, dass das Unheil, das Böse, gerade in dem Moment in unser Leben einbricht. Anders als bei «Nordholm» brauchte es dafür eine Feriensituation, schöne Landschaften. Berge, Sonne, Strand und Meer. Und plötzlich wird dieser Ort bedrohlich, fremd, verweigert unseren Protagonisten die Sicherheit der gewohnten Umgebung. Plötzlich sind sie in der Fremde schutzlos, können weder bleiben, weil zu Hause ein Leben, eine Firma, ein Beruf wartet, können aber auch nicht zurück nach Deutschland reisen, solange das eigene Kind noch nicht gefunden wurde. Maximaler Druck auf die Eltern. Und ihre Freunde. Eine spannende Situation für einen Film.

Mit Heino Ferch, Jessica Schwarz, Natalia Wörner und Petra Schmidt-Schaller haben Sie ein hochkarätiges Ensemble. Wie haben Sie die Rollen besetzt und welche Dynamik ergab sich am Set?
Besetzungen werden immer nach den Vorschlägen der Casterin, von den Produzenten, der Redaktion und mir zusammengestellt. Schon bei den «Nordholm»-Zweiteilern ist es uns gelungen, so ein hochkarätiges Ensemble für unseren Film zu begeistern. Und mit ihnen die Zuschauer. Ein großes Lob an die «Nordholm»-Filme war, dass sich alle Darsteller der Geschichte untergeordnet haben. So war es auch hier. Die Geschichte stand immer im Vordergrund. Und natürlich ist es ein großes Geschenk, mit so viel Talent arbeiten zu dürfen. Dabei ist es immer von Vorteil, der Autor, der geistige Vater der Geschichte, zu sein. Man hat als Regisseur dann so viel mehr zu erzählen – mehr als das, was bereits im Buch steht.

Medien spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte – von investigativen Journalisten bis zur Boulevardpresse. Welche Botschaft wollten Sie damit vermitteln?
Medien spielen in solchen Entführungsfällen immer eine zentrale Rolle. Solange es gelingt, die Öffentlichkeit für das Verschwinden seines Kindes zu interessieren, die Empathie und das Engagement der Menschen zu bekommen, so lange wird die Polizei auch suchen. Man muss sich vorstellen, wie viel Beamte so eine Suche bindet, wie viel Geld dafür aufgewendet werden muss. In allen Entführungsfällen wird irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Behörden ihre Bemühungen einstellen wollen, einstellen müssen. Aber solange es Menschen gibt, die mit den Eltern bangen und hoffen, so lange sich ein Fall in den Medien halten kann, wird die Polizei weitersuchen. Das ist es natürlich, was Eltern hoffen.

Die Eltern begeben sich schließlich selbst auf Spurensuche, als sie die Behörden im Stich lassen. Ist das für Sie auch eine Kritik an der Justiz und dem Umgang mit Vermisstenfällen?
Ich glaube, es wäre falsch in einem solchen Fall von Kritik zu sprechen. Man kann davon ausgehen, dass jeder, auch die Behörden, alles tun will, um bei der Suche nach einem verschwundenen Kind zu helfen. Aber natürlich gibt es immer Gründe, warum eine Suche eingestellt werden muss. Gründe, die Eltern nicht verstehen wollen. Nicht verstehen können. Aber abgesehen von äußeren Zwängen wie Manpower oder Geld, wird man schnell die Probleme der Behörden verstehen, wenn man sich klarmacht, dass bereits während der Suche nach einem Kind, zwei, drei vielleicht auch noch mehr andere Kinder verschwinden. Wer sucht dann nach denen? Wer soll entscheiden, welches verschwundene Kind wichtiger ist?

In vielen Fällen realer Kindesentführungen gibt es eine öffentliche Vorverurteilung der Eltern. Wie nah haben Sie sich an wahren Fällen orientiert, und wollten Sie bewusst mit diesen Mustern spielen?
Allein in Deutschland kennen wir viele Entführungsfälle. Der Fall Peggy, der Fall Jennifer, der Fall Manuel, um hier nur einige zu nennen, und ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. In vielen dieser Fälle gleichen sich die Muster, sind auf eine spezielle Art und Weise typisch für solche Fälle. Das betrifft den Verdacht gegen die Eltern, die Rolle der Medien und natürlich die Vorverurteilung der Eltern. Selbst wenn sie nicht unter Tat-Verdacht geraten, wird man ihnen immer unterstellen, nicht genug auf ihr Kind aufgepasst zu haben. Ein Vorwurf, der meist schon zwischen Vater und Mutter laut wird. Und oft ein Leben lang anhält.

Sie haben sowohl das Drehbuch geschrieben als auch Regie geführt. Wie hat diese Doppelrolle Ihre Herangehensweise beeinflusst? Gab es Momente, in denen Sie sich selbst herausgefordert haben?
Für die meisten meiner Filme habe ich das Buch geschrieben. Eine sehr fruchtbare Arbeitsweise. Erstens kenne ich dann die Geschichte wie kein anderer am Drehort, zweitens kann ich auf alle nicht vorhergesehen Situation reagieren und das Buch in der Nacht oder am Wochenende umschreiben.

Nach diesem intensiven Film – gibt es ein Thema oder ein Genre, das Sie als nächstes reizen würde? Planen Sie vielleicht eine ganz andere Art von Film?
Es gibt viele Themen und Geschichten, mit denen ich mich beschäftige. Und ja, sie sind alle sehr unterschiedlich. Nur in einem Punkt nicht: Sie alle sollen und wollen Zuschauer berühren, sie zu einer spannenden und hochemotionalen Reise einladen!

Danke für die vielen Informationen!

«Lillys Verschwinden» ist am Montag, den 17. Februar, und am Mittwoch, den 19. Februar, um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.

Kurz-URL: qmde.de/158863
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