1998 habe ich mit Daniel Gerlach „Zenith“ gegründet, die Zeitschrift für den Orient. Damals hatte ich gerade Abitur und den Zivildienst absolviert, wollte eigentlich Medizin studieren. Doch lud mich Daniel, mit dem ich eng befreundet bin, ein, bei „Zenith“ mitzumachen. Thematisch war ich damals alles andere als firm, doch ich bot an, ihn und das Team mit der Kamera zu begleiten und zu fotografieren. So ging das los.
Unsere erste Reportagereise führte uns von Istanbul, vom legendären Bahnhof Haider Pasha, nach Damaskus. Und mittendrin war ich – im Orient! In einer Zeit als der Nahe Oster eher ein Nischenthema war. Mit dem 11. September jedoch kam die Region auf die weltpolitische Breaking-News-Agenda.
Für mich folgte 2001 ein Praktikum in Jerusalem bei Associated Press. Und so kam das eine zum anderen – mich hat das Thema nicht mehr losgelassen. Und schnell hatte ich den Ruf weg, dass ich mich dort ganz gut auskenne und wurde immer wieder hingeschickt. Zunächst als Fotojournalist. Mit dem arabischen Frühling fing ich an zu filmen. Ich hatte sehr exklusive Zugänge in Syrien und fing an, Kurzreportagen zu produzieren – von drei bis 15 Minuten Länge. Der Film «Watani My Homeland» (Die Kinder von Aleppo) war mein erster 60-Minüter. Er hat mir die Oscar-Nominierung eingebracht.
Mit einem starken Team zur Seite habe ich das Handwerk schnell gelernt habe. Meine Gabe ist es, starke Protagonisten zu erkennen und dann hinter der Kamera zu verschwinden, unsichtbar zu werden. Das macht aus meiner Sicht einen guten Fotojournalisten aus. Genau diese Skills versuche ich im Dokumentarfilm anzuwenden. Ich versuche, dorthin zu gehen, wo normalerweise Nachrichten, News produziert werden und mit poetischen Filmen zurückzukommen. Im Laufe meiner zwölfjährigen Karriere als Filmemacher ist mir dies immer wieder gelungen. Und versuche da eine visuelle, aber auch eine emotionale Sprache zu entwickeln, die meine Filme so ein bisschen auszeichnet.
Ihr Dokumentarfilm «Watani My Homeland» wurde 2017 für den Oscar nominiert. Wir haben es ja gerade gesagt nochmal. Was hat diese Anerkennung Ihnen für Sie und Ihre Arbeit bedeutet?
Das war mein erster großer Film. Ich hatte alles selbst produziert. Ich saß gerade mit «Watani» im Schneideraum, als ich die Oscar-Verleihung anschaute, weil ein Freund von mir nominiert war. Da merkte ich, dass es die Kategorie „kurzer Dokumentarfilm“ gab, was mir bis dato gar nicht bewusst war.
Ich tauschte mich mit meinem grandiosen Editor Steven Ellis aus, und wir beschlossen: lass es uns versuchen! Im Grunde eine Schnapsidee. Wir haben dann eine Kurzfilm-Kino-Festival-Version geschnitten, noch bevor der Film ins Fernsehen kam. Das war alles selbst produziert.
Beispielsweise mussten wir den Film für eine Woche in New York und in L.A. in die Kinos bringen, um qualifiziert zu werden. Und manches mehr. Es ist sehr aufwändig. Doch bin ich diesen Weg gegangen, bis es dann zur Shortlist und schließlich auch zur Nominierung kam. Ein wenig habe ich so die Spielregeln Hollywoods kennengelernt. Natürlich ist mein Ehrgeiz geweckt, es nochmal zu versuchen. Und vielleicht das nächste Mal erfolgreich!
Mir ist klar geworden, dass es darauf ankommt, welches Paket man schnürt und mit welchen Partnern man ins Rennen geht. Und am Ende steht die Frage, wie viel Marketing man sich leisten kann, wie viel Werbung. Denn am Ende muss man herausstechen. Ohne einen starken Partner an der Seite geht man unter.
Ich bin dankbar und froh über die Oscar-Nominierung. Sie hat als Türöffner fungiert. Ebenso wie die anderen Preise, die ich für meine Themen erhalten habe: Ich werde bei den Senderverantwortlichen gehört und wahrgenommen, wenn ich eine Geschichte vorschlage. Und ich bekomme meist schnell eine Antwort.
ARTE hat vier Jubiläumssendungen programmiert, beginnend mit kommenden Sonnabend (8.3.), dann die eigentliche Jubiläumssendung am 15.3 - mit Ihnen als Studiogast. Es geht um den Nahen Osten. Wie hat sich Ihre Perspektive auf die Region im Laufe dieser vielen Jahre verändert?
Die Welt ist im Umbruch. Alles verändert sich und in einer Geschwindigkeit, die einem den Atem nimmt. Vergangenes Jahr habe ich einen Film in der West Bank gemacht, nach dem 7. Oktober, dem schrecklichen Massaker.
Journalisten kamen nicht nach Gaza. Es waren bereits mehr als 1.200 Journalisten im Land, als ich am 17. Oktober in Israel ankam. Jeder versuchte, Kontakt zu einer Familie aufzunehmen, in der ein Mitglied als Geisel nach Gaza verschleppt worden war.
Ich wollte woanders hinschauen, und zwar in die Westbank. Denn hier wird sich entscheiden, ob die Region eine Zukunft haben wird. Hier ballen sich auf engem Raum die Extreme – militante Siedler auf der einen Seite, bewaffneter Widerstand oder Terroristen (je nachdem wen man fragt) auf der anderen Seite.
Auch für diesen Film – «Zustand des Zornes, State of Rage» – habe ich die Sicht der Kinder in den Fokus gerückt. Mehr als ein Jahr lang habe ich junge Mädchen begleitet - in Dschenin und in Havat Gilad, einem ziemlich radikalen Siedleroutpost. Es ist einer der schwierigsten Filme gewesen. Ein Film, der nicht «Victimhood» vergleicht, sondern die Mechanismen der Radikalisierung beleuchtet. Weder die einen noch die anderen haben sich ausgesucht, wo sie hineingeboren wurden. Dennoch werden sie von dem, was sie umgibt, geformt. Und ja, die Region hat sich verändert.
Nun hat sich jetzt auch Syrien verändert. Niemand hatte damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ich habe jetzt die Familie Kassmou noch einmal besucht. Meine Familie aus dem Film «Watani», die ich über lange Zeit begleitet hatte: mehr als drei Jahre. Nun habe ich sie für ein 10-minütiges Stück wieder getroffen, das am 15. März bei «ARTE Reportage» gezeigt wird. Eine ganz besondere Familie. Eine emotional gesunde, poetische Familie von vier sehr, sehr starken Frauen: Hala Kamil, der Mutter, fällt es immer noch schwer, weiterzumachen. Sie will ein Kapitel abschließen und kann es nicht, weil sie nicht weiß, wo ihr Mann ist.
Da sind Helen, Sara und Farah, die drei wunderbaren, mittlerweile erwachsenen Töchter. Im Kindesalter habe ich sie kennengelernt. Jetzt begegne ich jungen Frauen, die perfekt und akzentfrei Deutsch sprechen. Eine hat ihre Ausbildung zur Hotelkauffrau abgeschlossen, die anderen sind auf dem Weg zum Abitur und Klassenbeste. Ihre Entwicklung – ein wunderbares Beispiel gelungener Integration. Das gute Ende einer so tragischen persönlichen Geschichte.
Sie stellen ja Familien und ihre Kinder gerne in den Mittelpunkt ihrer Filme. Wie gelingt es Ihnen, diesen Menschen trotz dieser extremen Lebenssituation eine Stimme zu geben?
Wir alle werden überflutet von Informationen. Die einzige Gegenkraft – und auch das, was einen gut gemachten Dokumentarfilm ausmacht – ist: sich Zeit nehmen. Und das ist nicht nur in der Art und Weise, wie ich erzähle, sondern vor allem, wie ich einen Film mache. Ich nehme mir Zeit. Für den Film in Israel bin ich neunmal über die Spanne eines gesamten Jahres hingereist. Sicherlich hätte ich nach meiner zweiten Reise bereits genug Material gehabt, um den Film fertigzustellen. Doch das ist nicht mein Ding.
Für «Watani» habe ich damals die Familie mehr als drei Jahre begleitet. Aus meiner Sicht macht genau die Entwicklung dieser Kinder über diese Zeitachse hinweg die Stärke des Filmes aus. Und wenn ich jetzt den Film weiterdrehen sollte, dann hätte ich die Geschichte Syriens anhand der einer Familie, vielleicht über eine Zeitachse von 15 Jahren. Was natürlich enorm ist und alles runterbricht.
Und wenn die Protagonisten stark genug sind, dann ist das etwas, was einen berührt. Wie schaffe ich das? Ich glaube, im Dokumentarfilm geht es immer darum, Vertrauen zu schaffen. Und wenn man Vertrauen schafft, dann bekommt man Zugang.
Und wie bekommt man dieses Vertrauen? Indem man selbst viel gibt. Indem man sich selber öffnet, indem man nicht nur der Regisseur ist, sondern sehr, sehr viel mehr als nur Regisseur. Man ist involviert. Es lässt einen nicht kalt. Und deswegen ist man gut beraten, sich die richtigen Protagonisten auszusuchen. Man verbringt sehr viel Zeit mit ihnen.
Sie sind in Kriegsgebieten unterwegs. Das ist ja gefährlich. Welche besonderen Herausforderungen haben Sie bei Ihren Einsätzen in Syrien oder Gaza erlebt?
Es gibt diesen mythischen Begriff des Kriegsberichterstatters. Ich glaube, jeder, der in diesen Ecken der Welt arbeitet, hat seine eigene Art und Weise, mit Gefahren umzugehen. Nun mache ich das jetzt ziemlich lange. Ich weiß ganz genau, wie man sich in solchen Regionen bewegt. Es geht immer darum, sich das richtige Team zusammenzustellen. Zentral ist der „Local Producer“, der Kollege vor Ort. Derjenige, der sich perfekt auskennt. Ein guter „Local Producer“ ist die wichtigste Voraussetzung, um sicher unterwegs zu sein. Ich habe ein dichtes Netz an Kontakten, an Menschen, die auch schon mit anderen gearbeitet haben. Und dann kommt es immer auf das eigene Bauchgefühl an, wem ich vertrauen will.
«ARTE Reportage» zeigt in den Sondersendungen nicht nur aktuelle Konflikte, sondern blickt auch auf vergangene Krisen zurück. Warum ist es wichtig, die Geschichten weiter zu erzählen? Wie Sie es jetzt bei der Familie aus Syrien gemacht haben.
Syrien kennen wir vor allem aus dem, was 2011 mit dem arabischen Frühling begann. Die meisten Journalisten hatten Zugang zum Land von 2011 bis 2015 – als James Foley vom Islamischen Staat vor laufender Kamera ermordet wurde. Das hat sicherlich jeder noch im Gedächtnis. Und dann sind die meisten Journalisten nicht mehr reingegangen. Ich selbst war von 2011 bis 2015 etwa 30 Mal in Syrien, danach war es einfach viel zu gefährlich.
Damit hatte Assad letztendlich das geschafft, was er die ganze Zeit bezwecken hatte: Er hat den Aufstand, der friedlich begann, so weit radikalisiert – von Al-Qaida bis zur Gründung des Islamischen Staates – dass es für Journalisten zunehmend unmöglich wurde, diese Seite zu erzählen. Und es gelang Assad, an der Macht zu bleiben.
Mit dem, was im Dezember 2024 passiert ist, hat man plötzlich wieder Zugang zu diesem Land. Ich war zwei Tage nach Assads Sturz in Damaskus. Ich hatte vor, eine Geschichte zu finden, die vielleicht DIE Geschichte über Syrien sein kann.
Das ist gar nicht so einfach. Zwischen 2018 und 2024 schien sich das Land fast damit abgefunden zu haben, dass es mit diesem Schicksal zurechtkommen muss: Dass Assad überlebt hat, dass er an der Macht bleibt – und man weiß nicht, wie lange. Und plötzlich, innerhalb von zehn Tagen, kollabierte das System. De Gefängnisse waren offen, man konnte in die Folterkammern des Regimes. Es war absolut horrifying, das ganze Ausmaß des Terrorregimes plötzlich vor Augen zu haben. Doch die Menschen gingen letztlich schnell wieder in das normale Leben über.
Ich glaube, es braucht noch Zeit, um wirklich zu verstehen, was der nächste große Film über Syrien sein kann. Für mich ist letztendlich, an eine Familie anzuschließen, die ich seit zwölf Jahren kenne und begleite. Für mich ist es die Möglichkeit, nahtlos anzuknüpfen und eine Verbindung zu schaffen zu dem, was vor zwölf Jahren passiert ist. Und zu beobachten, was in den nächsten Monaten und Jahren in Syrien passieren wird. Am Beispiel einer Familie – der gleichen Familie.
Da kann man ja gespannt sein auf den nächsten Film. Sie haben ja auch mehrfach auf blinde Flecken in der Berichterstattung hingewiesen, etwa im Blick auf Sudan oder Tigray. Warum geraten denn manche Konflikte so rasch wieder in Vergessenheit?
Es gibt einfach viel zu viele Konflikte. Es gibt einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
Ich habe einen Freundeskreis, der politisch sehr interessiert ist. Und selbst dieser Freundeskreis ist überfordert. Man kann einfach nicht mehr. Die Taktzahl an katastrophalen Nachrichten ist so groß und wird immer größer. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht. Viele sagen sich: Was soll ich mir das jetzt alles noch reinziehen, wenn man ohnehin nichts machen kann, außer zuschauen.
Das führt dazu, dass man leider Gottes viel von dem, was noch zusätzlich passiert, einfach nicht mehr mitbekommt. Nichtsdestotrotz haben wir natürlich nach wie vor eine Verantwortung hinzuschauen – auch wenn es weh tut, auch wenn es unangenehm ist.
Wer an eine wertebasierte Weltordnung glaubt und denkt, dass sie wichtig ist, dann müssen diese Gewaltherrscher Rechenschaft ablegen für all das, was sie tun.
Leider gehen selbst die großen westlichen Staaten jetzt einen Wettbewerb an Ruchlosigkeit ein. Es sieht nicht gar nicht gut aus. Mein Eindruck: Für viele ist der Blick in die morgendliche Zeitung oder auf den Bildschirm jedes Mal eine Herausforderung – und deprimierend. Ich glaube, es liegt genau an dieser Überfülle an schlechten Nachrichten, dass wir viele der großen Probleme, wie zum Beispiel im Sudan, überhaupt nicht mehr mitbekommen.
Und wir leben in einer Zeit, in der Fake News und Propaganda immer mehr zunehmen. Wie bewahren Sie da als Reporter Ihre journalistische Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit?
Ich mache keine politische Analyse. Ich erzähle Geschichten von Menschen, realen Menschen. Ich versuche, den großen Kontext herunterzubrechen auf einen kleinen Mikrokosmos des Einzelnen. Und ist immer wahr.
Ich zeige nur das, was ich sehe und was es gibt, meist ohne Kommentartext. Gerade bei Fernsehformaten denkt man, man muss immer noch alles erklären. In meinen Filmen geht es weniger ums Erklären, sondern viel mehr ums Fühlen.
Nach all den Jahren als Reporter in Krisengebieten, gibt es eine Geschichte, die Ihnen besonders nahegegangen ist, die Sie nie vergessen werden?
Mit Sicherheit die Geschichte der Familie Kassmou. Ich bin dieser Familie in einer Zeit begegnet, die sehr aufwühlend war. Sie hatten ihren Vater verloren, wissen nach wie vor nicht, wo er ist. Ich bin gewissermaßen Teil der Familie geworden. Die emotionale Bindung ist enorm. Ich musste auch lernen, mich davon wieder zu lösen. Das nächste Projekt verlangt den gleichen Einsatz, den gleichen Anspruch an Qualität. Ich musste lernen, mit meiner eigenen Energie zu haushalten. Man muss das alles ja aushalten.
Ich habe ein eigenes Leben, eine eigene Familie, ein Kind – meine Wirklichkeit. Da muss ich schauen, wie ich mit meinen Kräften jongliere. Aber jetzt, als ich zurückgegangen bin und wir drei Tage miteinander verbracht haben, habe ich gemerkt, wie sehr mir diese Familie ans Herz gewachsen ist, wie viel sie mir bedeuten – und wie viel ich ihnen bedeute. Es war ein sehr schönes Wiedersehen!
Was erwarten Sie für die Zukunft des Nahen Ostens? Und die weltweite Krisenberichterstattung. Gibt es Hoffnung auf bessere Zeiten?
Syrien ist ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht unbedingt blutig enden muss, wenn es einen Regimewechsel gibt. Die Menschen dort wollen an eine bessere Zukunft glauben. Das gibt Hoffnung. Ob das jetzt nun klappt, ist eine andere Frage. Aber der Wille ist da.
Israel ist ein sehr sensibler Nachbar, hat Truppen in Syrien. Das gleiche tut Iran. Nichtsdestotrotz will dieses Land eine friedliche und eine glückliche Zukunft aufbauen.
In Israel sieht es momentan nicht gut aus. Ich glaube, es ist sehr schwierig zu wissen, wie sich das alles entwickeln wird. Die große Hoffnung ist, dass es nicht zu einem absoluten Flächenbrand und zur absoluten Katastrophe kommt. Wir Berichterstatter haben auch nach 500 Tagen keine Möglichkeit, in Gaza einzureisen. So etwas sollte nicht passieren, wir sollten Zugang haben. Es zeigt aus meiner Sicht, was für eine rücksichtlose Politik von der israelischen Regierung betrieben wird. Gerade wenn man ein Freund Israels ist, so muss man dort eine selbstbewusste Haltung zeigen und die Regierung an ihre Grenzen erinnern. Und ich glaube, das haben wir noch nicht gelernt, da ist Nachholbedarf.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
Im März feiert das vielfach preisgekrönte Reportagemagazin «Arte Reportage» sein Jubiläum mit vier Sondersendungen am 8., 15., 22. und 29. März. «Der Nahe Osten, vom Krieg in Syrien bis Gaza» kommt am 15. März um 17.25 Uhr.
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