„Dokunovela“ heißt das neue Zauberwort bei ProSieben am Nachmittag. Mit «Reality Affairs» startete der Sender ein neues Format. Wir haben zugeschaut.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, ehe auch ProSieben das neue, erfolgreiche Genre der Doku-Soaps am Fernseh-Nachmittag weiter forciert. Dabei ist man hier sogar etwas spät dran, fährt doch RTL mit den gescripteten Doku-Soaps mittlerweile starke Werte ein. Der Sender mit der roten Sieben geht da aber noch ein Stück weiter und präsentiert dem Zuschauer auf dem 16-Uhr-Slot ab sofort so genannte „Dokunovelas“. Das heißt nicht mehr, als dass die Geschichte einer real existierenden Familie oder einer in Not geratenen Person eine Woche lang, quasi in Form einer Kurz-Telenovela, von einem ProSieben-Kamerateam begleitet und für den TV-Zuschauer dokumentiert wird. Die Menschen vor der Kamera sollen dabei ihre eigene Geschichte erzählen.
Das ist positiv, sowohl für ProSieben als auch für den Zuschauer. Der Sender verzichtet damit gleichzeitig auf teure Schauspieler und Autoren, die das Drehbuch für die Doku schreiben. Die Schauspieler sind die Menschen aus dem wirklichen Leben selbst, das Drehbuch ist ihre Geschichte, die sie zu erzählen haben. So bleiben dem Zuseher immerhin unlogische Erzählungen oder klischeehafte Dialoge, die eigens für das Format geschrieben wurden, erspart. Keine Laiendarsteller, keine vorgefertigten Worthülsen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass das Niveau dieser „Dokunovelas“ weit besser ist als jenes der RTL-Formate wie «Verdachtsfälle» oder «Familien im Brennpunkt». Große Unterschiede gibt es nicht. Es tun sich bereits in der ersten Folge Abgründe auf, schon gleich geht es zur Sache. Kein Blatt wird vor den Mund genommen. 23.000 Euro Schulden, Schreie und eine gewalttätige Teenie-Tochter halten die ProSieben-Zuschauer bei «Reality Affairs» in dieser Woche auf Trab.
Zur Story: Vor vier Jahren ließ ihr Freund Beate Wiegank mit den gemeinsam angehäuften Schulden sitzen. Von ihrem Ex-Mann bekommt sie momentan nichts mehr und muss dennoch ihre Kinder versorgen sowie ihr Leben auf die Reihe kriegen. Es droht der soziale Abstieg, weil Beate keinen Ausweg mehr weiß. Zu allem Überfluss macht dann auch noch Tochter Samira Ärger. Das Mädchen ist extrem aggressiv, auch weil Mutter Beate ihren Hass auf den Ex-Mann öfters auf sie überträgt. Eine ähnliche Geschichte könnte es sicherlich auch bei «Familien im Brennpunkt» zu sehen geben. Einziger Unterschied: Hier sind es keine Schauspieler, sondern das wahre Leben. Umso krasser, aber keineswegs niveauvoller geht es zu. Die heftigen Dispute unterhalten zwar zum einen, nach einer Zeit zehrt das aber auch an den Nerven des Zuschauers. Eine Schuldnerberaterin muss her, um der Familie von Beate Wiegank Hilfestellung zu geben. „Je größer der Druck wird, umso mehr entfernen sich Partner, Eltern und Kinder oft voneinander“, sagt die Schuldnerberaterin Katja Schmidt. Und genau das offenbarte sich dem Zuschauer zuvor. Heftige Konflikte, Verzweiflung und Ratlosigkeit. Die Schuldnerberaterin bringt etwas Licht ins Dunkel und versucht sogar mit dem Ex-Mann über die Schulden zu reden, doch der blockt zunächst. Das sieht aber zuweilen nach einer schlechten Kopie von «Raus aus den Schulden» aus. Stellenweise fühlt man sich tatsächlich so, als würde jeden Moment Peter Zwegat um die Ecke biegen. Da würden aber auch die Sprecher aus dem Off fehlen, denn auch die gibt es bei «Reality Affairs» nicht. Auch hier hat ProSieben gespart.
Es wird Wert auf Authentizität gelegt, aber auch das gelingt kaum, denn stellenweise wirken manche Sätze wie vorher ausgedacht. Gerade weil sie von den Protagonisten steif, einstudiert oder geradezu schmalzig vorgetragen werden. Vielleicht waren sie sogar vorher einstudiert. Zumindest die Inhalte der Gespräche dürften aber von den Redakteuren vorgegeben worden sein, um auch eine gewisse Handlung aufbauen zu können. Denn die Schnittfolge erzählt chronologisch die Ereignisse der Familie in Schulden, beispielsweise wie ihr geholfen werden kann, welche neuen Konflikte dadurch entstehen und welche Lösungen gefunden werden.
Reality-TV, so kann man es zusammen fassen, möchte ProSieben zeigen. Mit einer verzweifelten Mutter, einer launigen Tochter, die zudem gewalttätig ist, gelingt der Aufbruch ein neues, preiswerteres Doku-Format nicht gerade überzeugend. Denn Neues wurde kaum geboten, vielmehr sah es stellenweise nach einem Abklatsch bekannter, erfolgreicher Formate aus. Und auch wenn keine Laiendarsteller und Drehbuchautoren beschäftigt worden sind, einen großen Unterschied zu den gescripteten Doku-Soaps gibt es nicht wirklich. Denn welche kaum für möglich gehaltenen Dinge sich in Haushalten abspielt, in denen es wilder zu geht als in jedem geschrieben Pendant dazu, hat man vorher auch schon bei «Mitten im Leben» oder «We are Family» gesehen. Neu – und der Punke könnte für ProSieben noch interessant sowie zu einer Innovation werden – ist lediglich der Kurz-Telenovela-Charakter dieses Formats, das dadurch vielleicht im Laufe der Woche an Zuschauern gewinnen kann.