Julian Miller setzt im zweiten Teil von «J'accuse» seine Kritik am deutschen Fernsehen fort und zeigt auf, dass es auch anders ginge.
Ab und an packt vor allem die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten die Angst, dass ihr geballter Schund keine Rechtfertigung mehr für ihre Existenz sein kann. Sie erinnern sich dann an etwas, das sie “Bildungsauftrag” nennen, was mehr oder weniger heißt, dass sie nicht wie die privaten Sendeanstalten stumpfsinnig den Quoten hinterher rennen dürfen, sondern ab und an auch einmal eine Kassette mit einem Film in den Player werfen müssen, der, nun ja, nicht hundertprozentig auf den trivialen Massengeschmack zugeschnitten ist. Da es sich bei dem Wort “Bildungsauftrag” aber um einen äußerst schwammigen Begriff handelt, haben die ARD, das ZDF und die Dritten auch hier noch eine außerordentlich freie, schwarze Hand. Das führt dann dazu, dass das ZDF mit seinem «Kleinen Fernsehspiel», ein vollkommen rückständiger und verstaubter Titel für ein Projekt in der heutigen Medienlandschaft, zwar den Nachwuchs fördert, doch auch hier meist nur die banalsten und seichtesten Konzepte umsetzt und Neulinge in der Branche – dem Fehlen von vergleichbaren deutschen Institutionen wie der WGA und DGA in den USA sei Dank – finanziell gnadenlos ausnutzt.
Doch auch wenn man die übrigen selbsternannten avantgardistischen Filme der Öffentlich-Rechtlichen betrachtet, bietet sich einem ein Bild des Grauens. Von wenigen wirklich gelungenen Produktionen in den letzten Jahren, wie etwa dem von Allegro-Film produzierten ZDF-Film «Ein halbes Leben», einmal abgesehen, kann man den Großteil dessen, was man in Mainz und München für künstlerisch wertvoll hält, ebenfalls kaum ertragen. Man scheint hier häufig der Ansicht zu sein, dass mit billigsten Mitteln verfilmte Alltagsgeschichten mit einem starken Hang zum Naturalismus durchaus die Definition von Avantgardismus erfüllen. Was dabei herauskommt, konnte man anhand eines extremen Beispiels vor einigen Monaten im ZDF sehen: «Dancing with Devils», der neue Film von Klaus Lemke, hatte ein Budget von fünfzigtausend Euro und setzte ausschließlich Laiendarsteller ein. Das sollte dann wohl große Kunst sein, erinnerte aber eher an «Lenßen und Partner» als an «À Bout de Souffle». Wenn es etwas Widerlicheres als triviale Fernsehfilme gibt, so ist es die Pseudoavantgarde, die das Medium Film unaufhaltsam zerstört. Denn hier wird zumindest der intellektuelle Zuschauer nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt und die trivialen Botschaften dieser Produktionen laufen meist auf die einfachsten Lebensweisheiten hinaus. Aus Sinn wird immer mehr Unsinn.
Dies wird leider auch noch dadurch gefördert, dass Dinge wie Glaubwürdigkeit und rationale Nachvollziehbarkeit selbst in seriöseren Produktionen eine immer kleinere Rolle spielen. Denn im deutschen Fernsehen dominieren “Deux es Machina” und debiles Bauchgefühl, was schon zu Zeiten der Geburt der Dramaturgie als abscheulich galt und von Aristoteles höchst persönlich verteufelt wurde. Immer wieder muss man heute mitansehen, wie Instinkt über Verstand triumphiert und wie sich Konflikte, die sich über eineinhalb oder zwei Stunden mehr oder weniger gut entwickelt haben, durch einen Casino-Besuch oder das Eintreffen der rettenden Person in der letzten Szene in Luft auflösen, um die unterbelichteten Charaktere wieder zurück in den Schoß ihrer perversen, heilen Welt zu führen. Der Kitsch siegt immer.
Dass es bei Schauspielerinnen heute wichtiger ist, dass sie aussehen wie BOTOX-geschwängerte Go-Go-Tänzerinnen mit Straßenstricherfahrung oder – je nach Rolle – wie die Mutti von nebenan, anstatt dass sie in ihrem Leben schon einmal die Namen Samuel Beckett oder Tennessee Williams gehört haben, tut sein Übriges.
All diese traurigen Entwicklungen finden jedoch leider nicht nur im deutschen Fernsehen statt, sondern haben längst den Sprung in die Kinos unseres Landes geschafft. Dass wir faktisch nur noch drei Genres, nämlich Vergangenheitsbewältigung, schlechte Komödien und klischeehafte Heimatfilme, bedienen, ist unserer Filmkultur natürlich alles andere als förderlich. Während das Herumstochern in den Wunden unserer Geschichte eine internationale Anerkennung erhält, die sie es nicht verdient, und unsere Komödien wegen ihres unsubtilen Hau-Drauf-Humors und ihrer schlechten Schauspieler nicht mehr ansehbar sind, sind es besonders die debilen Heimatfilme im Stile Marcus H. Rosenmüllers, die die Kunstform Film zu einem erbärmlichen Schatten ihrer selbst machen. Denn besonders in solch schrecklichen Produktionen wie «Beste Zeit» oder «Wer früher stirbt, ist länger tot» triumphiert ständig das Bauchgefühl über den rationalen Verstand und das Einfache über das Komplexe, was zu einer gefährlichen Verzerrung der Realität führt. Film muss Realität nicht abbilden, auch wenn das Medium dazu im Stande ist, was etwa Andy Warhol durch seine famosen Werke «Empire», «Eat» und Andere nachgewiesen hat. Doch der Film muss sich mit der Realität auseinandersetzen, sonst nimmt er seine Aufgabe nicht wahr und verblödet.
Wenn man angesichts all dessen noch daran denkt, dass der Rest der deutschen Fernsehunterhaltung aus widerlichen Sozialpornos und Call-in-Sendungen mit Max Schradin, dem schlimmsten Hetzer des neuen Jahrtausends, besteht, muss man doch irre werden.
Was wir brauchen, um dieser geballten Degeneration Einhalt zu gebieten, ist eine radikale Umwälzung des deutschen Film- und Fernsehmarkts und eine Änderung der Denkweise vieler Verantwortlicher. Verblödung kann nie und nimmer das Ziel einer Medienkultur sein. Wir brauchen eine Raddadistenmaschine, wie sie Kurt Schwitters 1921 so treffend beschrieb. Wählt Anna Blume!
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