Die Kritiker

Die Kino-Kritiker: «Up in the Air»

von
Ryan Bingham sammelt Flugmeilen und feuert Angestellte anderer Firmen. Tag für Tag. Eine Änderung des geliebten Systems sowie die Nebensache Liebe reißen ihn aus allen Wolken.

Stellen Sie sich vor, Sie trügen einen Rucksack auf dem Rücken. Spüren Sie die Trage-Riemen auf ihren Schultern? Und nun packen Sie ihn, mit all den Dingen, die ihr Leben ausmachen, angefangen mit den kleinen Sachen. Na, was so in den Regalen liegt und in Schubladen - Die Souvenirs. Spüren Sie das Gewicht? Es wird schon mehr. Dann kommen die größeren Sachen. Kleidung, Bettwäsche, Ihr Fernseher. Mittlerweile ist der Rucksack schon schwerer. Nehmen wir noch mehr. Das Sofa, das Bett, die Kücheneckbank; stopfen Sie alles da rein. Ihr Auto, das auch. Ihr Zuhause. Egal, ob es sich um eine Einzimmerwohnung handelt oder ein freistehendes Haus. Egal wie groß. Stopfen sie alles da rein. Jetzt versuchen sie zu gehen. - Auszug aus dem Vortrag “What's in your Backpack?”

Ryan Binghams Dasein besteht aus seiner Arbeit, dem Ziel, die Zehn-Millionen-Flugmeilen-Schallmauer zu durchbrechen sowie dem Fliegen selbst. Letztere Tatsache zeugt von einer bitteren Ironie, da es Ryans Aufgabe ist, Angestellte fremder Firmen zu entlassen, deren Vorgesetzte nicht selbst die Courage aufbringen, dies zu tun. 275 Tage eines Jahres bewegt er sich in einer indoktrinierten Umlaufbahn, die ihn zwar zu einem gewissen Grad glücklich stimmt, jedoch gleichzeitig vollends von Familie und potentiellen Freunden isoliert. Als die aufstrebende Natalie Keener Ryans Betriebsleiter den Vorschlag einer Kostensenkung unterbreitet, zu dessen Verwirklichung die Entlassungsgespräche per Videokonferenz stattfinden müssten, fällt sein geordneter Alltag in sich zusammen. Um die drohende Katastrophe abzuwenden, soll Ryan die junge Keener mit auf Reisen nehmen, um ihr und den Verantwortlichen die Effizienz der bisherigen Arbeitsweise näher zu bringen. Die Romanze mit seinem weiblichen Gegenpart Alex führt ihn währenddessen zu neuen Höhen. So scheint es zumindest.

«Up in the Air» basiert auf dem gleichnamigen Buch des Autoren Walter Kirn, der vom Gespräch mit einem anderen Passagier innerhalb eines Fluges der ersten Klasse inspiriert wurde – Jener Mann gestand, ein Apartment in Atlanta zu besitzen, allerdings mehr als 300 Tage im Jahr auf Reisen zu sein und gar die Namen der Kinder von Flugbegleitern zu kennen. "Ich denke, das Buch ist gegenüber dem Film, was ein Stück Papier gegenüber einem Papier-Flugzeug ist. Er [Jason Reitman] nahm die Story, faltete sie, faltete sie erneut und verwandelte sie in einer Art und Weise, in der ich mein eigenes impulsives Schreiben entdecke.", so Kirn bezüglich der Filmadaption, die bereits ein Jahr nach der Publikation des Bestsellers ihren Anfang nahm. Reitman ließ seinen Vater Ivan, Regisseur der beiden «Ghostbusters»-Filme und diverser anderer Komödien, die Rechte an dem Stoff erwerben und überarbeite Versionen Sheldon Turners und der Gebrüder Griffin – Die Produktionen «Thank You for Smoking» und «Juno» durchkreuzten jedoch den Zeitplan, weshalb es letztlich eine Zeitspanne von sieben Jahre umfasste, bevor das Projekt, der Papierflieger seinen Weg in die Lichtspielhäuser fand.

Sähe man sich gezwungen, das Positive an «Up in the Air» in einem Rucksack zu verstauen, so wäre es sicherlich kein zu verachtendes Gewicht. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf den Charakteren und Darstellern beziehungsweise der Harmonie zwischen eben diesen. George Clooney schöpft das Potential seiner Figur Ryan Bingham vollkommen aus, doch selbst er scheitert letztlich an deren Befangenheit. Einerseits unnahbar, andererseits menschlich – Um diese Gratwanderung zu bestehen, muss ein Drehbuch deutlich mehr bieten als gewöhnlich. Selbstverständlich stützt man sich hierbei auf die Liebesgeschichte, die aufzeigen soll, wie sehr Ryan leidet, ohne es wahrhaftig anzuerkennen - Nur ist der Plan nicht völlig aufgegangen. Vera Farmiga war dessen ungeachtet zweifellos eine gute Wahl, zwischen ihr und Clooney springt der Funke definitiv über. Auch Anna Kendrick überzeugt in der Rolle der Natalie, ebenso wie Jason Bateman, der mit Reitman bereits bei «Juno» zusammen gearbeitet hat, als Craig Gregory.

Doch obiges Zitat ist lediglich ein Teil des Vortrages. Wenige Sekunden später wird der erträumte Rucksack angezündet und die Frage, die Ryan in den Raum der Zuhörer wirft, ist folgende: “Was würden Sie retten, wenn sie könnten?” Im Falle des Filmes sollte es keine Bedenkzeit geben; es ist die Authentizität, die «Up in the Air» ausmacht. Jeder Charakter wirkt von Grund auf ehrlich, keine Sekunde ist gegenstandslos und kein Dialog unbrauchbar; Reitman ließ unter anderem Menschen, die nach Jahren harter Arbeit urplötzlich entlassen wurden, vor der Kamera sprechen – Einer der Gründe, weshalb der Film derart an Atmosphäre gewinnt. Dennoch: Nach zahlreichen Lobeshymnen und der hohen Erwartungshaltung bleibt man deutlich hinter den Hoffnungen zurück. Es scheint, als wollte man ein zu großes Spektrum abdecken und punktet nun schlussendlich in unterschiedlichen Gebieten, aber stets in geringem Maße. Schwer auszumachen, ob es sich nun um ein komdiantisches, tragisches oder leidenschaftliches Schauspiel handelt. Alle drei Komponenten sind vorhanden und sorgen durchgehend für durchschnittliche Unterhaltung, doch auf diese Weise bleibt es dem Film verwehrt, das Publikum tiefergehend zu erreichen und zu bewegen - Etwas, das der äußerst gelungene Trailer gar zu versprechen schien.

Auch beispielsweise «Der gute Hirte» ist überaus authentisch und hat einen wundervollen Cast aufzuweisen – Nichtsdestotrotz ist er geprägt von nihilistischer Farblosigkeit, die den zuvor erwartungsvollen Zuschauer kalt zurücklässt. Im Gegensatz zu Robert De Niros CIA-Epos, besitzt Reitmans dritte große Regiearbeit eine merklich kürzere Laufzeit und eine höhere Intensitätsdichte; und doch wird die Kongruenz mehr als deutlich: In beiden Werken geht es um alles. Liebe. Beruf. Ziele. Freundschaft. Familie. Dinge, die die Menschen ausmachen, sie erfüllen. Doch wie «Der gute Hirte» erzählt «Up in the Air» in Wahrheit so gut wie nichts und zeugt von keinerlei Nachhaltigkeit. Ein Film, den man nicht gesehen haben muss oder sollte. Ein Film, den man sehen kann, ohne etwas zu bereuen. Ein Film, über den man in zwei Wochen kein Wort mehr verlieren wird. Fast als würde man mit einem Flugzeug über der schönsten Stadt der Erde abstürzen und hätte keine Sauerstoffmaske parat.

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