
Der Film, über den jedermann den gleichen Gedanken hegt, muss erst noch geschrieben, gedreht, geschnitten und veröffentlicht werden. Allerdings existieren einige Filme, über die zumindest so etwas wie eine Mehrheitsmeinung vorherrscht, und bei denen all jene mit abweichender Haltung in Erklärungsnot gelangen. Wer blasphemische Verachtung für «Citizen Kane», den Pflichtfilm für jeden Filmhistoriker und -kritiker, übrig hat muss mit ähnlich zweiflerischen Blicken rechnen wie jene rar gesäten Seelen, die «Battlefield Earth» zu ihrer Film gewordenen Bibel erklärten. Über viele andere Filme existiert eine Vielzahl an Meinungen. Und eine weitere Kategorie von Filmen eignet sich hervorragend zur Definition des Adjektivs „polarisierend“. Als Auslöser kontroverser Filmrezeption sind meistens die Behandlung von Tabuthemen, heikle Aussagen (beziehungsweise potentiell gefährliche Missinterpretationen) oder brisante Darstellungen von wahlweise Sexualität, Gewalt oder beidem in unheiliger Vereinigung zu identifizieren.

Die Leinwandadaption des 1982 uraufgeführten Broadwaymusicals «Nine», welches wiederum von Federico Fellinis surreales und semi-autobiographisches komödiantisches Drama «8 ½ » inspiriert wurde, dürfte bereits von den Erwartungen vieler Zuschauer geschädigt werden. Zu große Lasten erdrücken den Film: Da wären der ruhmreiche italienische Klassiker, der für ihn Pate stand, die mit Glanz, Glamour und Oscar-Ehrungen geschmückte Darstellerriege und Rob Marshalls vergangene Adaption eines Bühnenstücks mit nichtmusikalischer Vorlage, das sechsfach mit dem Academy Award ausgezeichnete Musical «Chicago», welches bei den Kritikern hervorragend ankam und zugleich der kommerziell erfolgreichste Film des produzierenden Miramax-Studios wurde. All diesen Bürden kann «Nine» nicht standhalten ohne ins Straucheln zu geraten. Gegenüber Fellinis Klassiker erweist sich «Nine» als leichtfüßige Hommage, was manchen Zuschauern bereits zu zwanglos erscheinen wird. Die zahlreichen glamourösen und namenhaften Schauspielerinnen passen deshalb allesamt in den Film, weil sie für sich genommen nur eine flüchtige Zeit vor der Kamera verbringen. Und die einvernehmende Magie seines Sensationserfolges «Chicago» konnte Rob Marshall trotz stilistischer Parallelen kein zweites Mal heraufbeschwören.
Es ist allerdings nicht so, als würde «Nine» sein gesamtes Potential verschenken. Auch wenn Penélope Cruz, Nicole Kidman, Judi Dench und Kate Hudson nur unwesentlich länger als für eine einzige Gesangseinlage zu sehen sind, nutzt Regisseur Rob Marshall das geballte Talent seiner Darstellerinnen. Sie alle geben prägnante Leistungen ab, wobei Cruz und Hudson das meiste aus ihren einengenden Rollen herausholen. Cruz («Vicky Christina Barcelona», «Vanilla Sky») bringt als Guido Continis naive Geliebte während ihrer prickelnden Gesangsnummer «A Call from the Vatican» die Luft zum Kochen und verleiht auch ihren übrigen Szenen viel Kraft. Kate Hudson («Almost Famous») gibt als für Contini und seine Filme schwärmende Vouge-Reporterin Stephanie eine lebhafte Performance ab und überrascht mit der extra für den Film geschriebenen, energetischen Retro-Popnummer «Cinema Italiano», in der sich die Cutter Claire Simpson und Wyatt Smith sowie Kameramann Dion Beebe (Oscar-Gewinner für «Die Geisha») richtig austoben und eine berauschende Sequenz voller energetischer Schnitte und wechselnder Kamerawinkel zusammenstellen. Noch überraschender als Kate Hudsons überzeugende Darbietung ist, was Marshall aus der «Black Eyed Peas»-Sängerin Fergie herauskitzelte. In einer Komposition aus schwarz-weißer Rückblende und farbkräftiger Fantasiesequenz besticht die 34-jährige als die Prostituierte Saraghina, welche Guido und seine Kindheitsfreunde für ein paar Münzen in die Geheimnisse der Liebe einweihte und durch das Lied «Be Italian» (zweifelsohne die Hymne des Films) darüber aufklärt, wie sich der perfekte Liebhaber zu verhalten habe. Diese Sequenz ist es auch, in der sich Rob Marshalls Talent für leinwandfüllende Choreographien am stärksten bemerkbar macht. Zusammen mit seinem Choreographen und Produzenten John DeLuca entwarf er für diesen Song eine besonders ausgetüftelte und originelle Tanzeinlage, die wieder Erinnerungen an den preisgekrönten «Chicago» weckt.
Der heimliche Star des Films ist jedoch Marion Cotillard («Public Enemies», «La vie en rose»), die mit sehr viel Wärme und Hingebung Guido Continis vernachlässigte Ehefrau verkörpert. Als einzige Actrice im hervorragenden Besetzungskader von «Nine» sind der Pariserin zwei Lieder gegönnt, die ihrer Rolle mehr Tiefe verleihen und Cotillards wunderbare Gesangsstimme fordern. Es verwundert, dass Penélope Cruz für ihr Spiel in «Nine» für einen Academy Award nominiert wurde, während Cotillard leer ausging, obwohl sie überaus natürlich, kraftvoll und rührend agiert und den Film wesentlich mehr trägt, als ihre spanische Kollegin.

Durchweg makellos erstrahlt «Nine» indes auf visueller Ebene. Prachtvolle Bauten und wunderschöne, sinnliche Kostüme verwöhnen das Auge von der ersten bis zur letzten Minute. Dion Beebes Kameraarbeit erweckt das Italien der 60er Jahre genauso formidabel zum Leben, wie Guidos Traumsequenzen, während denen die Musicalnummern des Films stattfinden und ein überwältigender Bilderrausch auf den Zuschauer losgelassen wird. Selbst wenn der Einfallsreichtum und die mitreißende Qualität von «Chicago» nie erreicht wird, so sind die Musik- und Tanzsequenzen von «Nine» bis zum Bersten voll mit ausgefeilten Tanzschritten, denkwürdigen Bildeinstellungen, aufwühlender Lichtdramaturgie und, je nach Song, hinreißender Erotik oder imposanter Emphase. Und trotz einiger bildsprachlicher Ähnlichkeiten zu «Chicago» entwickelt «Nine» seine eigene Visualität, die passend zum Thema weniger an das Varieté der 20er Jahre erinnert, sondern etwas filmischer anmutet.
Doch anders als beim Oscar-prämierten Vorbild fühlt sich der Zuschauer nie in Mitten des wilden Spektakels, sondern stets wie ein distanzierter Beobachter.
Diese Distanz zwischen Publikum und Guidos bemühtem Selbstfindungsprozess wird wohl zu den Hauptgründen für die fast schon bizarr entzweite Rezeption des Films. Das Drehbuch von Michael Tolkien («Deep Impact») und dem späten Anthony Minghella (u.a. Regie bei «Der englische Patient», «Der talentierte Mr. Ripley» und «Unterwegs nach Cold Mountain») vermeidet es konsequent, Empathie für die Figuren aufkommen zu lassen und behandelt Guido Continis schöpferischen Probleme zu weiten Stücken eher abstrakt. Der Film zeigt überaus offensichtlich die Spitze des Eisberges, gegen den sein Talent auflief, der Rest wird dagegen zwischen den Zeilen zur Ruhe gelegt. Fasst man dies mit der distanzierten Inszenierung der Musiknummern zusammen, so siedelt sich «Nine» auf einem kuriosen Punkt zwischen Arthouse und Entertainment an, der mit Sehgewohnheiten schwer konform geht. Den meisten werden schon viele außerordentlich unterhaltsame Kunstfilme oder auch anspruchsvolle Unterhaltungsfilme begegnet sein, doch «Nine» befindet sich fast schon in einem Niemandsland zwischen den Stühlen. Aufgrund der leicht episodischen Dramaturgie des Drehbuchs und der nicht unbedingt fließenden Wechsel zwischen Realität und Traumsequenzen werden manche Zuschauer über Bord geworfen, während andere intuitiv die richtige Haltung für den Film finden.
Würden die Lieder nicht so eingeschoben wirken, und hätten die Autoren sowie Regisseur Rob Marshall ihre Verquickung aus überaus unterhaltsamen, rasant inszenierten Musicaleinlagen in benebelnder Verpackung einerseits, und kühlem, analytischen Selbstanspruch natürlicher gestalten können, wäre «Nine» als Gesamtpaket wohl etwas gefälliger geworden und die selbst gesetzten Ziele mit Bravour erreicht.

«Nine» läuft seit dem 25. Februar in vielen deutschen Kinos.