Wie aus Vuvuzela Uwe Seeler wird und was ein innerer Reichsparteitag ist, erklärt Kolumnist Jürgen Kirsch.
„Ich liebe Deutscheland, ich liebe Deutscheland!“, aus dem Feiern kommt man nach diesem tollen WM-Auftakt unserer Nationalelf fast gar nicht mehr heraus. Der vielversprechende Beginn mit tollen Kombinationen und einem traumhaften Ergebnis dank Offensiv-Fußball lässt wieder an den Weltmeistertitel glauben, reitet man mit auf der Euphorie-Welle. „Deutschland vor, noch ein Tor“, war beim Public Viewing ein beliebter Gesang, neben dem zahlreichen „Schlaaand“-Rufen. Selbst Lena Meyer-Landruts Eurovision-Siegertitel, der uns schon einmal Jubel-Orgien beschert hat, wurde eigenes für das WM-Fieber auf "Schland oh Schland" umgetextet. Das übertragende ZDF konnte sich riesig freuen. Rund 28 Millionen Deutsche saßen beim ersten Auftritt der Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Südafrika vor dem Fernsehen oder standen vor den vielen Großbildleinwänden im Land. Über 70 Prozent Marktanteil bei allen Zuschauern wie auch beinahe 80 Prozent Marktanteil bei den Jungen zwischen 14 und 49 Jahren. Damit hatte man selbst mit den Prognosen von Rekord-Quoten bei den Übertragungen der Spiele der Deutschen nicht gerechnet. ARD und RTL werden sich schon die Hände reiben, wenn sie in den Genuss der Übertragung einer Partie mit deutscher Beteiligung kommen werden. Auch die Abonnenten von Sky jubelten natürlich mit, nur einen Bruchteil von Sekunden später aufgrund von Verzögerungen bei den Übertragungswegen. Im Free-TV jubelt man früher. In der Tat übertrafen auch Jogis Jungs mit ihrem guten Spiel, an dem es fast keine Kritik auszusetzen gibt, viele Erwartungen. Ein Start nach Maß, doch unser Bundestrainer tritt schon auf die Euphorie-Bremse, denn es „werden noch härtere Gegner kommen“, sagt er voraus.
Bei all der Kritik, die auch auf Jogi Löw und seine junge Mannschaft im Vorfeld dieser Weltmeisterschaft erfahren hat, war dieser Traumstart und der 4:0-Kantersieg mit schönen Toren wohl auch für das ganze Team samt Trainerstab ein innerer Reichsparteitag. Vor allem für Miroslav Klose, der eine schlechte Saison bei den Bayern hinter sich hat und wie Podolski vom FC Köln im Nationaldress erst richtig einschlug. Das hatte auch ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein in der Halbzeitpause festgestellt. Hoppla! Innerer Reichsparteitag? Das Nazometer neben mir schlägt beim Schreiben dieser Zeilen gerade heftig aus. Nazometer? Das kennen Sie doch noch? Eine Erfindung von «Schmidt & Pocher» in ihrer ersten gemeinsamen Sendung als Parodie auf die Debatte um Eva Herman. Die ehemalige «Tagesschau»-Sprecherin hatte Werte wie Familie mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht und musste daraufhin gehen. Auch das Nazometer in der einstigen Late-Night im Ersten erntete heftige Kritik. Nur ein Teil einer ganzen Reihe von „Skandalen“ um ähnliche missglückte Äußerungen. Nun ist es wieder soweit: Eine riesige Empörungswelle schwappte über das Land, noch in der zweiten Halbzeit forderten einige Boulevard-Medien online den Rücktritt von Müller-Hohenstein von ihrer Funktion als WM-Moderatorin. Auch die Internet-User hämmerten in die Tastaturen, beispielsweise bei Twitter war die Welle der Entrüstung deutlich spürbar, die einem entgegen schwappte. Die Mecker-Nation war wieder aufgebracht, das frische Spiel der eigenen Mannschaft geriet aufgrund der flapsigen Äußerung der ZDF-Moderatorin fast schon in den Hintergrund. Aber auch hier gilt es einmal auf die Bremse zu treten! Das Gegenstück quasi zu Jogis Euphorie-Bremse, die ZDF-Entrüstungs-Bremse. Ruhig bleiben ist angesagt! Die Redewendung, die einfach flapsig daher gesagt wurde, entstammt doch dem üblichen Sprachgebrauch, den auch jene Medien, die direkt einen Skandal herauf beschwörten, in ihren Berichten unlängst und gar nicht mal selten benutzt haben. Dies sollte schon als Hintergrundwissen vorausgesetzt werden, empört man sich über Sätze, die man im Alltag selbst gerne gebraucht. Was Müller-Hohenstein mit dieser Redewendung zum Ausdruck bringen wollte, konnte man - einen gewissen Intellekt vorausgesetzt - doch durchaus richtig einordnen. Nämlich: Müller-Hohenstein wollte bloß das Gefühl tiefster Befriedigung bei dem lange Zeit glücklosen Klose nach seinem Treffer beschreiben. Und dann ist auch alles halb so wild. Ein Skandal in seinem Definitionsinn ist das bei Weitem nicht und auch das Nazometer hat sich hier wieder beruhigt, obgleich diese Redewendung doch nicht unbedingt zur Moderatorensprache gehören muss - eben weil es nicht Jedermann versteht. Doch Katrin Müller-Hohenstein hat bereits beteuert, dass ihr der Spruch leid tut. Und damit sollte das Thema doch erledigt sein – zum Fußball gehören eben auch Emotionen und nicht jedes Wort muss auf die Goldwaage. Sonst müssten manche sinnfreien Kommentatoren-Sprüche auch auf den Prüfstand. Oder über Autobahnen in Südafrika gar nicht erst nachgedacht werden, denn Autobahn geht gar nicht (Kerner über Herman). Viel Wind also um Nichts - der Offensiv-Wind von Jogis Jungs ist nun wahrlich interessanter.
Denn auch ohne solche Diskussionen über vermeintliche Nazi-Vergleiche ist die Weltmeisterschaft in Südafrika bislang doch sehr herzerfrischend. Über 80.000 Zuschauer in den neu gebauten Stadien und Milliarden vor den Fernsehschirmen weltweit. Kuriose Szenen wie Torwart-Patzer oder Eigentore sorgen für Belustigung, wenn diesen Part nicht schon Netzer und Delling mit ihrem gegenseitigen Bashing in den Pausen der Spiele übernehmen - ein Highlight in Sachen Unterhaltung. Wenn der Außenseiter USA beispielsweise dem Favoriten England einen Punkt abluchst, kommt noch Schadenfreude hinzu. Jedem «Simpsons»-Fan war schnell klar, dass sich das Oberhaupt der gelben Familie, Homer Simpson, als erster Amerikaner mit „USA, USA“-Rufen über das Punkt-Geschenk von Englands Keeper Green gefreut hat. Fankulturen brasseln bei der WM auf dem afrikanischen Kontinent zusammen. Moment! Fankultur? Nein, ich meine natürlich die Vuvuzelas, die ein einem Bienenschwarm ähnlichen Geräuschpegel erzeugen. Da gehen die Fangesänge durch das ständige Getröte leider stark unter. Nicht nur die Fernsehzuschauer beschweren sich, auch einige Sender haben bereits Beschwerden eingereicht, manchen Spieler mag es auch stören, viele Fans im Stadion oder vor den Public Viewing-Leinwänden wohl auch. „Lass die Finger von der Vuvuzela“, gibt es bereits einen Parodie-Song auf der Plattform YouTube frei nach einem bekannten deutschen Hit. Doch verbieten will die FIFA sie nicht, schließlich ist es doch afrikanisches Kulturgut. Doch was sind eigentlich diese Vuvuzelas außer nervtötenden Nebengeräuschen, die sich markant wie ein roter Faden durch die bislang elf Spiele der WM ziehen? Eine 80-Jährige Besucherin des Public Viewings hat es auf dem Weg dort hin, trotz des hohen Alters als treue Fanseele ausgestattet mit DFB-Trikot und Schwarz-Rot-Gold-Fähnchen, auf den Punkt gebracht: „Dieser Uwe Seeler macht auch ein Heidengeld mit den Dingern“, sagte sie. Bei Vuvuzela verstand sie schlicht Uwe Seeler. Doch richtig: Ein Verkaufsschlager sind die Tröten. In der afrikanischen Tradition sind sie, glaubt man einschlägigen Quellen im Netz, allerdings weniger verwurzelt als immer wieder gesagt wird. Immerhin sind die lauten Nervtöter made in China und eher ein amerikanischer Umsatzmagnet. Nun denn: Wir werden uns dran gewöhnen müssen. Doch ist der Vu-Vu-Seeler auch schon bei den deutschen Fernsehsendern angekommen. Nicht nur, dass Netzer und Delling sich bei dem Thema in einen Lachkrampf redeten, auch Katrin Müller-Hohenstein brachte diesen Gag. Der schlug aber weniger hohe Welle. Schade eigentlich. Aber spätestens bei den nächsten Deutschland-Toren werden die vermeintlichen Entgleisungen im Freudentaumel zur Nebensache werden und auch die Vuvuzela beim Torschrei nicht mehr zu hören sein.
«Kirschs Blüten» gehen auch nächste Woche wieder auf – jeden Dienstag! Nur bei Quotenmeter.de!