Leonardo DiCaprio ist der Star in Christopher Nolans gedankenvollem Kinotraum «Inception», der neue Maßstäbe setzt.
Loslassen. Ein Thema in Christopher Nolans visionärem und gedankenvollem Thriller «Inception», das viele angesichts der virtuos inszenierten, impressiven Leinwandbilder und der komplexen, inspirierenden Geschichte leicht übersehen werden.
Die Figuren in diesem vielschichtigen Banditenstück, das in einer unbestimmt nahe liegenden Zukunft spielt, müssen loslassen. Sie müssen sich aus der ihr bekannten Realität lösen, um in ein fragiles Konstrukt aus Gedanken, Emotionen und Erinnerungen, in jemand anderes Träume einzudringen. Dort, in Mitten der Architektur des Verstandes, stehlen sie fremde Ideen. Eine ungeahnt effektive, weit reichende Form der Industriespionage. Wenn der Auftraggeber es verlangt und die entsprechenden finanziellen Mittel locker macht, dann hinterlässt der Meister unter den Traumeinbrechern Dominic Cobb (Leonardo DiCaprio) auch fremde Ideen im Verstand des Opfers. Er und sein Expertenteam vergraben die fremde Idee so tief, dass der Träumer sie letztlich für seine eigene hält. Dies nennt sich „Inception” und gilt als das heikle Meisterstück in diesem Fach.
Loslassen. Ausgerechnet Cobb mangelt es an diesem entscheidenden Talent, dieser scheinbar so simplen und dennoch so vertrackten Grundvoraussetzung für die Reise in den fremden Verstand. Cobb kann nicht von den bedrückenden Schatten einer bedauernswerten Vergangenheit loslassen. Sein Gram sucht ihn immer wieder heim und bedroht in Verkörperung der sinnlichen Mal (Marion Cotillard) sowohl ihn, als auch das Wohl seiner in den Traum mitgereisten Gefährten. Ironisch ist der von ihnen gewählte Weckruf, den sie spielen, wenn eine ihrer Missionen schief läuft: Edith Piafs «Non, je ne regrette rien», „Nein, ich bereue nichts“.
Loslassen. Das muss vor allem das Publikum, welches der talentvolle Regisseur Christopher Nolan mit seiner intelligenten Verquickung von Blockbuster-Pomp und vertrackter Arthouse-Narrative stets fordert, aber niemals überfordert. Wer beim Betreten der dezent surrealen Kinowelt von «Inception» sein Konzept der Realität loslassen und sich von sämtlichen Befangenheiten über groß angelegte Actionfilme befreien kann, der wird vom britischen Autorenfilmer vollends entlohnt. Anders als der mit nicht minder vielschichtigen Stoffen arbeitende David Lynch erwartet Nolan von seinen Zuschauern lediglich, dass sie während des Kinobesuchs konzentriert beim Film bleiben und sämtlichen Ablenkungen entsagen. Wer «Inception» ohne weitergehende Analyseversuche folgt, der erhält einen hochspannenden Action-Thriller mit beeindruckenden Effekten, einem beklemmenden, sehnsüchtigen Score von Meister-Komponist Hans Zimmer und beengenden Bildern des Kameramanns Wally Pfister, dessen hypnotische Kameraführung sich ins innere Auge einbrennen wird. Leonardo DiCaprio, Joseph Gordon-Levitt, Ellen Page, Tom Hardy, Ken Watanabe und Dileep Rao sind auf der grundlegenden Ebene von «Inception» nichts weiter als ein charmant-gewieftes Halunkenteam wie die Truppe aus «Ocean‘s Eleven», das einem Millionenerben (Cillian Murphy) hinter’s Licht führen möchte. Die Maßstäbe setzenden Actionsequenzen vereinen derweil das beste aus den Welten von «Matrix» und «James Bond». Bei den meisten Filmen solchen Anspruches fehlt oftmals dieser simple Grundfaden, die rettende Reißleine für alle, die sich in «Inception» verloren haben oder einfach bloß einen spannenden Kinoabend verleben wollen.
Loslassen. Wer sich von «Inception» tief in Christopher Nolans erstaunliches Gedankenkonstrukt ziehen lässt, der darf tiefer graben. Ist die Grundebene des Films sehr spannend und dank ideal abgestimmter Stimmungsauflockerung durch einige Lacher auch durchaus unterhaltsam, so verbirgt sich die wahre Stärke erst unter dem bekannte Elemente auf traumartig unvorhergesehene Weise neu zusammensetzendem Actionplot. Von ihm losgelöst begegnet man purer Kreativität und eindringlichen Denkanstößen. Cobb fragt im Laufe der geistreichen Traumprojektion Nolans, was der schädlichste Parasit ist. Eine Idee, lautet seine sofort nachgeworfene Antwort. Denn eine einzige Idee vermag es Städte aus dem Nichts zu erbauen und sämtliche Regeln der Welt umzuschreiben. Mit «Inception» verseucht der Regisseur, der es wagt tiefgehendes Experimentalkino in das Gewand eines Hollywood-Kassenschlagers zu verpacken, Millionen von Menschen. Und obwohl jeder von ihnen der gleichen Handlung folgt, wird jeder eine eigene, persönliche und unvergleichliche emotionale und intellektuelle Reise durchmachen, in die er seine durch und durch individuelle Interpretation der in «Inception» angerissenen Themen hineinprojiziert. Vermeintlich kam man selbst auf diese Gedanken. Dabei stammt die Saat jeglicher Lösungsansätze auf die von diesem einnehmenden Gedankenlabyrinth gestellten Rätsel aus dem Gehirn Christopher Nolans. Er betreibt Inception wie kein anderer.
Fazit: «Inception» ist sowohl Christopher Nolans bislang aufwändigster, als auch sein bislang intimster Film. Er vereint die mysteriös-beklemmende Atmosphäre und die Gedanken anregende Narrative von «Memento» oder «Prestige» mit der Spannung und der wuchtigen Bildgewalt von «The Dark Knight». Ein Erlebnis, das einen noch lange verfolgen wird.
«Inception» ist seit dem 29. Juli in vielen deutschen Kinos zu sehen.