1 Stunde Wahnsinn

«1 Stunde Wahnsinn»: Die Stimmen der Nacht

von
Seite 2
Von der Matthäus-Reality über Spielfilme bis hin zu Aische Pervers. Der Wahnsinn zwischen 4 und 5 Uhr.

Das übernatürliche Astro TV: Männlein und Weiblein philosophieren über Glück. Das Ergebnis: Wir alle wollen glücklich sein – wer hätte das gedacht? Frauensender sixx zeigt indes die Oprah Winfrey Show im englischen Ton. Oprah befindet sich in einer Videokonferenz mit 14 Familien aus ein und derselben Stadt, die nach und nach insgesamt 33 Waisen aus Liberia adoptiert haben. Wie gehen nur andere mit ihrer Langeweile um? Na, wahrscheinlich sitzen sie in eben diesen Moment auch vor der Glotze und sehen Oprah. Zum nächsten Sender. Bun Gusto schickt in «Echt lecker!» zwei Köche vor grell grüne Kulisse und lässt sie fantastische Gerichte zaubern. Die beiden wirken selbst etwas verschlafen und vergessen einige Zutaten.

Auf Sat.1 Comedy wird eine alte Ausgabe der «Harald Schmidt Show» wiederholt. Lächelnd lehne ich mich zurück. Die guten alten Zeiten. Schmidt und das Studio-Publikum sind wie immer zu Späßen aufgelegt und ersterer entschließt sich deshalb seinen bequemen Stuhl aus Solidarität einer Mitarbeiterin zu überlassen. Gesagt, getan: Schmidt rollt den Stuhl aus dem Studo in den Backstagebereich und die Kamera folgt. Lisa, eine ältere Damen mit Platz vor den Toiletten scheint wenig begeistert. Spielverderberin.

Der Sender 1.2.3.-tv, von dem ich nicht einmal weiß, was er denn tagsüber so zeigt, bietet mir „vulgäre Biester zum Sparpreis“. Vermutlich das beste Angebot der Nacht. Das im Webcam-Style eingeblendete Mädel ist laut eigener Aussage äußerst ungezogen und will mich dementsprechend verwöhnen. Was mich abschreckt, ist ihr Name: Aische Pervers. Interessant dabei ist, dass ich die Betonung hierbei völlig automatisch auf „per“ lege (Vergleiche: Hermann). Manipulation erster Güte – aber mich kriegt Aische nicht. Ohnehin ist ihr Code nur Hot74. Es kann doch nur aufwärts gehen. Informercials auf HSE24 und Channel21, «Rocky 3» auf 13th Street und „williges Fleisch“ bei Sport1. Nirgends verweile ich mehr nennenswert lange.

Interessant ist die Gegenüberstellung genreverwandter Sender: Bibel TV zeigt Bilder von eingeschneiten Wäldern und Bergen, während fromme Lieder erklingen und Psalmsprüche die Leinwand unsicher machen. Währenddessen haut man bei Daystar TV persönlich in die Tasten. Die Gospel Church ist vollbesetzt, der Prediger jung und voller Elan. Niemanden hält es lange auf dem eigenen Sitz – kein Vergleich zum stillen Sonntag, den wir alle kennen. Nachrichten sucht man unterdessen sowohl bei N24 als auch n-tv vergeblich: Ersteres begibt sich mit der Doku «Miamis Unterwelt», letzteres mit «Take Off – Das Abenteuermagazin» auf Zuschauerfang. Ich zappe weiter. Über zehn Musiksender, die von Klassik bis zu Death Metal reichen und alle ausländischen Programme, hin zum Sky Paket. Bis auf «Hangover» und «Dragonball Evolution», den vielleicht schlechtesten Film des Jahrzehnts, hält es mich aber auch hier stets nur jeweils eine knappe Minute.

Ich schließe den Kreis. Das Erste: «Weltspiegel». Aufschlussreich. Das Zweite: «Global Vision». Weniger aufschlussreich. RTL: «Verdachtsfälle». Darauf habe ich gewartet. Fast schade, dass sich mein Zeitfenster bald schließt – erst jetzt beginnt das eigentliche Vergnügen. Eine Frau, geschätzt Ende 20, besucht mit ihrer Tochter den Ehemann im Krankenhaus. Dort verhören ihn gerade zwei Polizisten, die sich jedoch verständnisvoll zeigen und sogar das Mädchen hinausführen, damit dem Paar einige ruhige Minuten gegönnt sind. Die Frau stellt den Übeltäter zur Rede. Dieser erklärt, er habe für Autos, die Kunden in seine Werkstatt brachten vorsätzlich Ersatzschlüssel angefertigt und die jeweiligen Adressen notiert. Später stahl er die Fahrzeuge, wechselte die Kennzeichen und ließ sie so einem Freund zukommen, der sich als Autodealer verdingt.

Meine erste Frage war natürlich: Wie wird man Autodealer? Seine Gattin entschied sich allerdings für: „Wie konntest du nur?!“ Die Antwort: „Wie hätt' ich das denn sonst machen sollen?“ Eben. Mit den echten Kennzeichen hätte sein Freund, der Autodealer die Karren doch nie übernommen. Er ist immerhin ein Profi – mal ehrlich. Die Dame will das aber nicht einsehen und stürmt aus dem Zimmer. Das Voice-Over verrät: "Solch eine kriminelle Ernergie hätte sie ihrem Mann nie zugetraut. Die Bochumerin braucht jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken.“ Ich schalte den Fernseher aus und schüttele enttäuscht den Kopf. Bochumer.

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