Präludium: Prolog im Schreibzimmer
Gegen seine Kopfschmerzen ringend sitzt der Kolumnist in seinem Schreibzimmer. Ziellos, unkontrolliert durchstreifen seine Hände die Luft, hoffend, in Bälde eine Niederschrift anzusetzen. Der Hammer der Ideenlosigkeit zermartert seinen Geist. Da erscheint ihm ein gleißend Licht. Eine wohlgeformte Frauengestalt schreitet aus dem türkisen Schein hervor. Sich zu ihm wendend, spricht sie: „Schaue auf, zermürbter Schreiberling! Ich bin die Muse des Kolumnenschreibens…“ “Heiliger Kieselstein”, unterbricht der Kolumnist die Muse in einem Anflug ungeschickter Wortwahl, nicht wissend, dass er dieses Gespräch bald in Schriftform umsetzen wird, “was zum Henker ist mit dem Trinkwasser in diesem Kaff los? Das ist schon die dritte Erscheinung diesen Monat! Muse der Kolumnisten, ich hör’ wohl nicht recht…” Die Muse räuspert sich ob der inkorrekten Titulierung und fährt fort: „Eine ungewöhnliche Kolumne, schreib sie! Viel zu lange schon hast du keine mehr verfasst, die Subjektivität und Beleuchtung übersehener Themen vereinigte!“ Der Kolumnist kratzt sich am Kopf: „Beflügeln Musen üblicherweise nicht durch einen Kuss die Kreativität, verleihen so Ideen? Du befehligst hier nur rum…“ Da entschwindet die Muse wieder in einem Lichtkreis, letztlich noch einen Imperativ in den Raum rufend: „Oh, und sei ganz prätentiös. Mach irgendwas literarisch prahlerisches. Keine Ahnung, geh an dein Bücherregal und klau dir was zusammen…“
Die Kolumne
Die Quotenmeter-Kolumne «Popcorn und Rollenwechsel» gehört zu den acht beliebtesten Kolumnen, die Quotenmeter in regelmäßigem Takt veröffentlicht. Einer der Hauptgründe für dieses ihren Autor erfreuende Phänomen ist, dass Quotenmeter nur acht Kolumnen regelmäßig veröffentlicht. Der andere Grund, und der ist womöglich noch viel nennenswerter, ist dass in ihrem Titellogo in großen, freundlichen Lettern „Popcorn und Rollenwechsel“ steht. Mit dem Rollenwechsel können nur wenige Leser etwas anfangen, aber Popcorn hat jeder gerne, und somit auch eine Kolumne, die nach dieser irdischen Nascherei benannt ist. Über die Akzeptanz von Animationsfilmen bei Jugendlichen, hat «Popcorn und Rollenwechsel» dieses zu sagen: “Es ist bekannt, dass jede Altersschicht Trickfilme genießen kann. Doch gerade wenn sich der Körper plötzlich enorm verändert, und kein Führerschein von diesen Änderungen ablenken kann, pöbeln Menschen gerne über solche Filme. In den 1970/80er Jahren war das besonders schlimm. Eine seltsame Zeit, in der Männer Frauenfrisuren trugen und Omas bunte Küchentapete als seriöse Oberbekleidung durchging. Der ganze Disneykonzern erlebte damals eine Krise. Ausgerechnet eine flammendhaarige Meerjungfrau, brachte aber auch Jugendliche wieder in den Zeichentrickfilm. Sicher alle nur sexgeil.” Fortwährend berichtet «Popcorn und Rollenwechsel» davon, wie in den 90er Jahren nach einem Boom wieder Ablehnung aufkeimte. In bestimmten Kreisen, versteht sich. Durch Komödien wie «Shrek» wurde von Jugendlichen aber die Computeranimation akzeptiert. Filme, in denen gezeichnete oder am Computer erstellte Wesen unerwartet in Gesang ausbrechen, die waren ein anderer Fall. Phasenweise mussten ältere mit diesem Steckenpferd noch Gelächter aushalten. Phasenweise wurden sie sympatisch dafür angelächelt. Eine allgemeine Laune war nicht festzumachen. Akzeptieren Jugendliche sie wieder? In einem Selbstversuch ging der Autor dieser Kolumne ins Kino um «Rapunzel» zu sehen. 23 Uhr, großer Saal, zu einem Drittel gefüllt, nur Jugendliche. Der Film kam, so konnte man der verworrenen Kolumne entnehmen, sehr gut an. Aber der Autor fand die Reaktionen auf einen Trailer fiel spannender. Da findige Winkeladvokaten gemeinerweise ein intergalaktisches Schlupfloch über Urheberrechte stopften, müssen wir ihnen an dieser Stelle zeigen, wie ein anderer Autor die Kolumne auf die Trailerreaktionen interpretierte. Leider hatten wir nur einen schmierigen Dramatiker zur Hand…:
Alsdann brannte die Vorschau zum kommenden Winnie-Puuh-Film auf die Leinwand. Das Herzen meinige sprang in einem Schrecken nach oben, meine Augen suchten in Erwartung der vor mir revoltierenden Meute Zuflucht. Winnie Puuh, der dumme kindliche und mit grausamen Fernseh- und Videoproduktionen zum Kleinkindalleinunterhalter erzogene Bär, das kann nicht wie erwünscht laufen! Doch, horchet, meine erstaunten Ohren! Was ist das, entzücktes Jauchzen weiblicher Stimmen? „Oh, Winnie Puuh!“, schütteten sich die Herzen junger Damen aus. Der Raum nahm ob dieses kollektiv ausgelösten Mutterinstinkts eine anheimelnde Wärme an. Obacht, ermahnte ich mich meiner selbst. Die jugendlichen Männer werden es meiner gleichtun und in wenigen Wimpernschlägen die überschwängliche Knuffigkeit diesem filmischen Vorausblick mit hörbarem Augengerolle und entnervtem Grummeln entgegenschlagen. Warten. Ausgedehntes Warten. Eine bekümmerte Eselsgestalt bedeckte die Kinoleinwand. Unisono erfreuten sich sonore Männerstimmen besten Alters: „Ohhh, I-Ah!“ Ein amüsierender Scherz, der das deprimierte Stofftier mit einem gar unpassenden Jo-Jo als Schwanz zeigte, erntete großzügiges Lachen unter den Männern. Kann es sein, fragte ich mich, jagte alte Geister des Vorurteils hinfort, die Dämonen des Zweifels an Disneys Beschluss, einen dummen, alten Bären im Kino auf ein entzückendes Märchen folgen zu lassen. Ist die Generation des digital-sozialen Netzwerkes, die Jugend aus den kulturellen Früchten eines Oliver Pochers, eines Sidos aufgeschlossen genug? Wächst sie dermaßen in Toleranz auf, dass sie über oberflächliche Altersklassierungen hinwegzusehen weiß, und falls ja, welche Grenzen liegen ebenso auf dem blinden Fleck der Jugend? Was wird meiner Erleuchtung der olle Pferdefuß Sarrazin entgegnen?
Epilog: Juchheißa. Kindheitsnostalgie und Genuss der künstlerischen Gestaltung von Trickfilmen ist mittlerweile wieder so sehr verbreitet, dass selbst ein geballter Saal Jugendlicher einen «Winnie Puuh»-Trailer jubiliert. Ein neues, güldenes Zeitalter der Animation?