2010 war ein tolles Kinojahr für Geeks: Beherrscht von nerdigen Comics, Retrochic und dem cineastischen Siegeszug des Internets.
Zwölf Kinomonate liefen an mir vorüber. Ich lasse die besinnlichen Weihnachtstage hinter mir und schließe angesichts des nahenden Jahreswechsels meine Augen. Welche Bilder nehme ich aus dem Kinojahr 2010 mit? Ich sehe eine befahrene Straße in der Pariserinnenstadt, die sich wie Papier falten lässt, sprechendes Spielzeug, dem Todesangst ins Gesicht geschrieben steht, sozialinkompetente Studenten mit Visionen, die wild auf ihre Tastaturen hacken und durchschnittliche Verlierertypen, die ordentlich Schläge austeilen. Bunte, knallige Farben, die an 8-bit-Videospiele erinnern. Ein kleines Mädchen mit lila Haaren, das grinsend Gangster abschlachtet. Oh, und ich sehe einen orangehaarigen Johnny Depp, der seinen Zylinder abnimmt und einen oberpeinlichsten Breakdance hinlegt.
Ich stelle fest: Zwei der denkwürdigsten und auffälligsten Filme des Jahres waren «Kick-Ass» und «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt», jeder für sich ein enormes Geek-Fest. Es sind beides Comicverfilmungen mit eher geringem Mainstream-Potential, in deren Mittelpunkt absolute Durchschnitts- bis Losertypen stehen. Der Humor ist sehr “geekig“, basiert auf Nerdkulturanspielungen und Variationen klassischer Videospiel- und Comicklischees. Übertreibung, Parodie, Hommage und Dekonstruktion. Comicfilme für Leute, die über diese Materie mehr als das Durchschnittspublikum wissen. Leider nahmen diese aufgedrehten Filme an den Kinokassen nicht so viel ein, wie man es sich gewünscht hätte: Edgar Wrights «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt» nahm weltweit bloß 47 Millionen Dollar ein (bei Kosten von 60 Millionen), «Kick-Ass» von Matthew Vaughn schaffte es immerhin auf 96 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Der “Frauenfilm” «Sex and the City 2» brachte es auf 288 Mio. Dollar.
Selbstverständlich hat «Sex and the City 2» den genannten Nerdfilmen gegenüber einen beachtlichen Vorteil: Er spricht eine größere Zielgruppe an und basiert auf einer jahrelang äußerst populären Fernsehserie, so wie auch «Eclipse - Biss zum Abendrot» auf dem Erfolg der Twilight-Bücher aufbauen kann. Die Vermutung, dass Frauen einfach weniger kinofaul als Männer sind, und die eher jungsspezifischen Filme deswegen floppten, muss gar nicht erst aufgekocht werden. Schließlich war das Testosteronspektakel «The Expendables» in den USA um ein paar Milliönchen Dollar erfolgreicher als «Sex and the City 2». Es ist kein Kampf der Geschlechter, sondern ein Kampf der Zielgruppenbreite. Es gibt halt mehr Schuhe kaufende Frauen, als tief in der 8-bit-Videospielkultur verwurzelte, Indierock hörende Comicleser. Deswegen kam «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt» nicht aus den kommerziellen Puschen.
Dennoch feierte der Nerd- und Geekfilm dieses Jahr einen kleinen kommerziellen Triumph: «Tron: Legacy» nahm in den USA bislang über 85 Millionen Dollar ein und liegt somit zwar unter dem, was sich einige Fans erträumten, aber im Erwartungsbereich der Hollywood-Finanzspekulanten. Das genügt bislang, um Disney an den Plänen für Animationsserien und eine Kinofortsetzung festhalten zu lassen. Der größte Triumph des Nerdfilms 2010 ist allerdings ganz woanders zu verorten: In der Kritikerakzeptanz von «The Social Network». David Finchers stilistische Symbiose aus John Hughes, «Citizen Kane» und dem Zeitgeist der Facebook-Generation erhielt bereits zahlreiche Filmpreise und gilt als einer der Spitzenkandidaten für das kommende Oscar-Rennen.
«The Social Network» ist im Kern ein nerdiger Außenseiterfilm: Die Hauptdarsteller sind verkopft und stehen am Rande der universitären Hackordnung. Fincher inszeniert Programmierübungen wie angesagte Partys, während Sport als Beispiel für alte Bewährungsstunden von Glanz und Gloria, zu einer bizarren Veranstaltung verkommt. Einen Ruderwettbewerb filmt Fincher so, als sei er in einer kleinen Modellanlage eines Museums gedreht worden, antiquitiert und vom Zuschauer distanziert. Die klassische Elite, der reiche Sportlergockel, hat nichts mehr zu sagen, ganz egal ob er unser Gehör verdient hätte oder nicht, selbst Typen wie aus den Filmen von John Hughes stehen nicht mehr gänzlich im Rampenlicht. Justin Timberlakes Figur des Napster-Gründers Sean Parker ist ein schmissiger Partygänger, der zusammen mit Leuten wie Ferris Bueller sicherlich so einige Schandtaten treiben würde. Doch er steht nicht im Fokus. Dort stehen weniger aufreißerische Kerle wie Mark Zuckerberg und Eduardo Saverin, der eine erfolgreich, der andere moralisch vollkommener. Sie beide erschufen in Form von Facebook gemeinsam ein nerdfreundlicheres System der Sozialelite, wo man jemanden als Freund akzeptiert, mit dem man in einer Bar bestenfalls zweieinhalb Takte quatschen würde.
Dass «The Social Network» nicht als Film für eine unentwegt online auffindbare Zielgruppe rezitiert wurde, sondern auf breit gefächerte Kritikerliebe stieß… Dass er für ein Oscar-taugliches Drama ansehnliche 180 Millionen Dollar einnahm… Und dass er von vielen als bester Film des Jahres, nicht bloß als bester Film für irgendwelche demographische Splittergruppen, empfunden wurde… Dass macht «The Social Network» zum größten Triumph der Nerdkultur dieses Jahres. Und verhilft dem Kinojahr 2010, gemeinsam mit dem Einfallsreichtum von «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt», zum Prädikat “besonders geektauglich”.