Die eigenproduzierten ARD-Filme bergen so manches Juwel, meint unser Kolumnist.
Mit dem Zweiteiler «Der kalte Himmel», welcher am Montag und Dienstag im Abendprogramm des Ersten ausgestrahlt wurde, hat die ARD wieder einmal Millionen Menschen für einen ungewöhnlichen Filmstoff begeistern können: Im Durchschnitt sahen mehr als sechs Millionen Zuschauer die bewegende Geschichte des autistischen Jungen Felix und seiner Familie, die sich seine Krankheit zunächst nicht erklären kann. Sind solche Filme mit diesem Hintergrund avantgardistisch, also im reinsten Sinne der Wortbedeutung fortschrittlich, wegweisend, revolutionär?
Auf der technischen Produktionsebene wäre es sicherlich falsch, von fortschrittlichen Methoden zu sprechen. Die inhaltlich außergewöhnlichen ARD-Filme sind durchweg ordentlich in Szene gesetzt und brillieren oft mit einem gestandenen Cast. Aber an die hervorragende Kamera- und Montagearbeit von der Dominik-Graf-Serie «Im Angesicht des Verbrechens», die ebenfalls im Ersten gezeigt wurde, reichen sie beispielsweise keineswegs heran. Nein, fortschrittlich und wegweisend wären ARD-Filme wie «Der kalte Himmel» oder «Bis nichts mehr bleibt» im Jahr 2010 höchstens auf der inhaltlichen Ebene.
Einige Tage vor dem Fest zeigte die ARD den eigenproduzierten Streifen «Morgen musst du sterben» – ein eher ungewöhnliches Vorweihnachtsprogramm. In dem Thriller erhält der emerierte Professor Ganten, gespielt von Uwe Kockisch, eine ebensolche Nachricht mit dem Titel des Films in seinem Briefkasten – und hinterfragt plötzlich all seine Beziehungen und Bekanntschaften, hält am Ende selbst seinen Sohn und seinen besten Freund für die potenziellen Mörder. Was er nicht hinterfragt, ist seine eigene vorurteilsbehaftete und engstirnige Sicht auf die Welt, die letztlich den Blick für das Offensichtliche verliert. Insofern will «Morgen musst du sterben» weniger ein Thriller sein, mehr eine Milieustudie mit Anspruch und Aussage. Und im weitesten Sinne doch ein Weihnachtsfilm hinsichtlich des Aspekts der Nächstenliebe und der vorurteilsfreien Meinung.
Die inhaltliche Struktur dieses Films zeigt exemplarisch auf, wie gutes Fernsehen gemacht sein kann: Denn neben der vordergründigen Handlung, die unterhält und in den Bann zieht, finden anspruchsvolle Zuschauer auch eine moralische Aussage hinter der Geschichte, die uns Zuschauer im besten Falle aufrüttelt und hinterfragen lässt. Diese Symbiose aus Massenunterhaltung und gleichzeitigem Anspruch ist es letztlich, die solche ARD-Filme auch meist erfolgreich werden lässt: «Morgen musst du sterben» erzielte fast fünf Millionen Zuschauer, «Der kalte Himmel» im Durchschnitt sechs Millionen, den Scientology-Film «Bis nichts mehr bleibt» interessierten mehr als 8,5 Millionen Menschen.
Die Liste lässt sich mit zahlreichen weniger bekannten Titeln fortführen, beispielsweise mit «Der andere Junge» über eine Todfeindschaft zweier pubertierender Jungen oder «Schurkenstück» über ein Sozial-Experiment, in dem inhaftiere Jugendliche das Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“ auf die Bühne bringen sollen. All diesen Filmen gemeinsam ist der Hang zu ungewöhnlichen Storys abseits des Mainstreams. Damit sind sie, um die Ausgangsfrage dieser Kolumne zu beantworten, zwar nicht avantgardistisch und fortschrittlich im Sinne der Vorbildhaftigkeit, aber in jedem Falle Fernsehen zum Nachdenken, Unterhalten, Informieren und Aufrütteln. Dies ist eben nicht neu bzw. avantgardistisch, sondern einfach selten geworden im deutschen Fernsehen und daher deswegen umso bemerkenswerter.
Gewiss finden sich beispielsweise am ARD-Filmmittwoch nicht immer solche Perlen – sicherlich gibt es genauso viel belanglose Massenware wie Produktionen mit Anspruch und hintergründiger Komplexität. Dies sollte uns Zuschauer aber gerade dann dazu bewegen, noch genauer hinzuschauen, sich noch detaillierter darüber zu informieren, ob der Film dem eigenen Geschmack entspricht und eine interessante Handlung verspricht. Die oft belächelten ARD-Filme sind meist deutlich besser als ihr Ruf. Und dies musste mal gesagt werden.
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