Ein Kletterer stürzt in eine Felsspalte und klemmt sich den Arm ein: Kann das 6-fach Oscar-nominierte Abenteuerdrama «127 Hours» mit James Franco daraus 90 spannende Filmminuten spinnen?
Vor zwei Jahren feierte der britisch-irische Filmemacher Danny Boyle mit dem von Bollywood inspirierten Drama «Slumdog Millionär» einen Sensationserfolg. Nicht enden wollendes Kritikerlob, 377 Millionen US-Dollar weltweites Gesamteinspiel, über 2 Millionen Kinogänger in Deutschland und ein Erdrutschsieg bei den Academy Awards. Nicht zuletzt handlungsbedingt, bestehen zwischen dieser Underdog-Story und Boyles Nachfolgeproduktion «127 Hours» einige Unterschiede, doch es gibt auch große und entscheidende Parallelen. Allen voran: Es sind beides enorm energetische Filme. Gerade für «127 Hours» ist dies eine einschneidende Qualität, schließlich stecken Handlung und Handlungsort für über eine Stunde fest. Denn Boyle erzählt hiermit, wie er selbst sagt, „einen Actionfilm über einen Typen, der sich nicht bewegen kann.“
Ingenieur Aron Ralston (James Franco) erkundet die die rot-orange Canyonlandschaft Utahs mit großer Abenteuerlust. Er rast in einem Eiltempo per Fahrrad durch die staubige Wüste und nimmt kleine Missgeschicke mit großen Portionen Humor. Doch während der Draufgänger leichtsinnig durch die atemberaubenden Canyons klettert, macht er einen fatalen Schrittfehler. Er stürzt ab und reißt einen Felsen mit sich, der seinen rechten Arm einklemmt. Ohne jegliche Hilfe und nur mit einem Minimum an Vorräten ausgestattet, kämpft Ralston in einer Felsspalte gefangen gegen sich selbst und ums Überleben.
Möglicherweise ist einigen Kinogängern der Ausgang dieser unglaublichen, aber wahren Geschichte schon aus den Medien bekannt. Vielleicht reimt man ihn sich auch bei genauer Betrachtung des Vorspanns selbst zusammen. Zu welchem drastischen Schluss «127 Hours» kommt, ist allerdings auch so äußerst nahe liegend. Somit mussten Regisseur Danny Boyle und sein «Slumdog Millionär»-Coautor Simon Beaufoy bei der Gestaltung ihres neusten Films eine weitere Bürde auf sich nehmen: Nicht nur sind Handlungsraum und Figurenrepertoire eng begrenzt, die gesamte Geschichte könnte locker in drei Sätzen zusammengefasst werden, nimmt dabei einen erschütternden, jedoch nahe liegenden Schluss. Daraus einen spannenden und den Zuschauer engagierenden Film zu gestalten, ist wahrlich kein Kinderspiel.
Trotzdem ist der Versuch auf beachtliche Weise geglückt. Danny Boyle fesselt in «127 Hours» das Publikum nicht mit der Frage, was geschieht, sondern wie es dazu kommen wird. Boyle macht sich einen beinahe sadistischen Spaß daraus, eine ungeheure Anspannung aufzubauen. Selbst auf den schicksalhaften (wie der dehydrierenden Aron später mutmaßt, womöglich sogar vorbestimmten) Sturz lässt Boyle über eine Viertelstunde lang warten. Kaum geschehen, blendet Boyle auch prompt den Filmtitel ein: «127 Hours», die Zeit, die Aron mit seinen Vorräten und ohne fremde Hilfe noch zum Überleben bleibt. Es ist ein zynischer Regiekommentar, den sich der «Trainspotting»-Macher erlaubt, und er setzt damit ein deutliches Vorzeichen. Sein dramatisches und beengendes Kammerspiel wird, dem Charakter seiner Hauptperson gemäß, nicht ohne Galgenhumor auskommen. Als spitzfindiger, junger Abenteurer nimmt man sein Schicksal nun mal nicht unkommentiert hin, sondern verkürzt sich die Wartezeit auf den Moment X unter anderem damit, sich selbst niederzumachen. In einer der denkwürdigsten Szenen von «127 Hours» mimt Aron einen Radiomoderator, der ihn über seine missliche Lage ausfragt und gehässig auf seine Fahrlässigkeiten hinweist. „Upps!“, kommt es da in dieser Rolle herabwürdigend aus Arons Mund, bevor er sich selbst die Rückantwort gibt. Das Echo, nun wieder in der Rolle des in der Felsschlucht eingeklemmten Arons: „Upps…“ Binnen eines Atemzuges wechselt die Stimmung schlagartig, und aus einer bissigen Comedyroutine wird ein herzzerreißender Charaktermoment, die Kritik an Arons Unvorsichtigkeit wird von Empathie und Bedauern hinweggefegt.
Obwohl «127 Hours» nach seinem (für eine enorme Fallhöhe sorgenden) hyperaktiven, stylischen und energiereichen Intro formell stillsteht, bleibt dieses Abenteuer-Charakterdrama durch exakt solche Momente ununterbrochen in Bewegung. Boyles den Zuschauer mit schnellen Schnitten, Splitscreens und leuchtenden Farben erschlagender Inszenierungsstil wird, notgedrungen, runtergedrosselt, doch die oberflächlich verlorene Energie geht nahtlos ins Drehbuch und vor allem in den beeindruckenden James Franco über. Dieser füllt mit unglaublichem Charisma und faszinierender Glaubwürdigkeit die gesamte Leinwand und dürfte es wohl insgeheim verteufeln, dass Colin Firth ausgerechnet 2010 mit «The King‘s Speech» seine bislang beste Performance ablieferte. Denn ohne Firth stünde uns demnächst eine äußerst jungblütige Oscar-Nacht bevor, in der Portman und Franco sich verdient und ohne jeden größeren Zweifel die begehrten Preise abholen. James Franco trägt «127 Hours» ganz allein auf seinen Schultern und vollführt dabei noch den waghalsigen Balanceakt, ihn spannend, kurzweilig und gleichzeitig emotional anzulegen. Man glaubt sich direkt neben dem eingeengten Sportler, der sein letztes Stündchen geschlagen sieht.
Neben einer solch einvernehmenden Schauspielleistung Francos (die die eher simple Charakterzeichnung seiner Rolle vergessen macht), sind die restlichen Qualitäten von «127 Hours» eigentlich bloß noch Feinschliff. Wenngleich äußerst lobenswerter Feinschliff. Danny Boyles hippe Regieführung mag manchem Kinogänger zu aufgesetzt sein, hat allerdings ihre Daseinsberechtigung, da sie für unverbrauchte Energie und eine sportliche Jugendlichkeit sorgt, die für diesen Film mehr als nur angemessen ist. Zudem bewahren seine Einfälle, wie Subjektiven aus Arons Trinkschlauch, «127 Hours» davor, ob seines eingegrenzten Handlungsortes visuell langweilig zu werden. Damit lassen sich auch die, mit zunehmender Emphase aufgearbeiteten, Halluzinationen Arons begründen. Vor allem gegen Schluss sind sie vielleicht etwas übertrieben, doch ihre emotionalen Auswirkungen auf und vor der Leinwand machen sie unersetzlich.
Begleitet wird Arons Tortur, egal ob er gerade bei oder von Sinnen ist, von einer durchdringenden Filmmusik aus der Komponistenfeder A.R. Rahman, der für seine Arbeit an «Slumdog Millionär» sogleich zwei Oscars erhielt. Der indische Musiker setzt in «127 Hours» auf Kompositionen, die gleichermaßen vielfältig, wie stilistisch einheitlich sind. Ob eine sanfte Country-Gitarre die wenigen Sonnenstrahlen begleitet, die Aron in seinem Naturgefängnis genießen darf, oder ob meditative, verzerrte Klänge seine fortschreitende Dehydrierung unterstreichen: Die Musik ist stets ein angemessener Begleiter des filmischen Geschehens und wählt sich gekonnt die Momente raus, in denen sie die Stille durchbrechen darf. Allein Rahmans gemeinsam mit Dido geschriebener Song «If I Rise» ist kitschiger, als er in Anbetracht der in diesem Abenteuerdrama vorherrschenden Stimmung sein dürfte.
Überaus wirkungsvoll ist auch die Kameraarbeit, was angesichts der Handlung durchaus überraschen dürfte. Der im zeitgenössischen Hollywood oftmals übertrieben wackelnde Handkamerastil wird von Anthony Dod Mantle und Enrique Chediak äußerst effektiv genutzt, um den Zuschauer zunächst an Arons sportiven Lebensstil teilhaben zu lassen. In zwischen berauschend und anmutig changierenden Bildern fangen sie die ersten Filmminuten über die wunderschöne Canyonlandschaft Utahs ein. Man möchte sich glatt vornehmen, direkt nach dem Kinobesuch einen Urlaub zu buchen. Sobald sich der Zuschauer jedoch mitsamt Aron in der Felsspalte gefangen befindet, wechseln wir zwischen Arons eigenem Camcorder und einer sich minimal mit ihm bewegenden, bekommenen Handkamera. Sie versucht förmlich, sich in aller Enge mit letzter Kraft Atemraum zu schaffen. Die Schnittarbeit von Jon Harris («Kick-Ass») ist letztlich der, zurecht für den Academy Award nominierte (und vom Kinogänger sicherlich vollkommen unbemerkte), Feinschliff. All die kleinen Gefühlsschwankungen, jede einschneidende Flektion James Francos wird mit einem perfekt gesetzten Umschnitt betont. Harris ist gewissermaßen Danny Boyles verlängerter Arm, er sorgt dafür, dass «127 Hours» auch auf der visuellen Ebene den Drive aus der Anfangsszene bei- und mit seinem Hauptdarsteller mithält. Und insbesondere in den schmerzhaften Szenen weiß Harris genau, wie viel er dem Publikum vorenthalten soll, und was er ihm zumuten muss.
Fazit: «127 Hours» brilliert mit einem gleichermaßen einvernehmenden, natürlichen sowie vielfältig agierenden James Franco in der zentralen Rolle. Dank seiner, manchmal zu selbstbewussten, energiereichen Regieführung wird aus dem Extremsportler-Kammerspiel letztlich ein packendes Charakterdrama mit gesundem Galgenhumor, das neben dem typischen Arthouse-Klientel auch ein junges Publikum begeistern dürfte.
«127 Hours» ist seit dem 17. Februar in vielen deutschen Kinos zu sehen.