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Im gleichen Jahr wie «Arabella» startete auch der einzige Daily-Talk im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, der aber sogar noch ein Jahr länger, bis 2005, lief: «Fliege». Der evangelische Pfarrer und ehemalige Kirchenbeauftragte von Sat.1, Jürgen Fliege, talkte in der ARD jeden Werktag um 16 Uhr gegen «Hans Meiser» mit völlig andersartigen Themen. Bei ihm ging es nämlich zum einen vor allem um Schicksale einzelner Menschen und zum anderen auch um esoterische Themen. Ebenso exotisch war auch oft sein Moderationsstil mit vielen wirren Formulierungen- und Sprachformen, die die Gäste aber unter dem Strich komischerweise immer dazu brachten, ihr Seelenleben gänzlich zu offenbaren. Insofern war Fliege also der Seelsorger im Fernsehen, der sich stets mit dem Satz „Ich bin Jürgen Fliege“ zu Beginn einer jeden Sendung vorstellte und sich jedes Mal mit „Passen Sie gut auf sich auf!“ verabschiedete.
Das nahmen einige seiner Zuschauer auch gerne wörtlich gegenüber seinen Talkgästen und spendeten manchmal bei besonderen Schicksalen unaufgefordert Geld. Daher richtete Fliege im Juni 1995 eine eigene Stiftung ein, die die Spendengelder verwaltete. Der heute besonders typische Niveaustreit zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern blieb im selben Jahr übrigens nicht aus. Fliege stritt sich öffentlich mit seinem Konkurrenten Hans Meiser und warf ihm sowie seiner Kollegin Ilona Christen „ein kaltes Vorführen von Menschen“ vor. Meiser wies das als die „weinerlichen Anschuldigungen eines ewigen Dritten“ zurück. Mit seinen ziemlich konstanten Quoten, die vor allem beim älteren Publikum hoch waren, überlebte Fliege als lachender Dritter allerdings die beiden besagten Kollegen. Bisher hält er immer noch den Laufzeitrekord aller deutschen Daily-Talkshows mit 11 Jahren.
Eine Ausgabe mit besonderer Erinnerungswürdigkeit war hier zum Beispiel die thematisch typische vom 22. Januar 2002 zum Thema „Meine eigene Krankheit hat mich zum Heiler gemacht“, die besonders hohe Quoten erreichte.
Ein Jahr später als «Fliege» startete «Bärbel Schäfer» bei RTL, verabschiedete sich aber schon drei Jahre früher als er . Von 1995 bis 2002 diskutierte die Frau des Polit-Talkers Michel Friedman immer wieder gerne mit ihren Gästen konfrontativ über deren Beziehungen. Schäfer stellte die Konkurrenz zu «Arabella» auf dem 14-Uhr-Sendeplatz dar. Weil sie aber mehr auf Streit setzte und vor allem junges Publikum ansprach, kritisierten Jugendschützer nicht selten die Themenauswahl der ersten Krawall-Talkshow.
Hierbei bleibt besonders eine Folge vom 28. Januar 2000 im Gedächtnis, in der die Gäste erzählen sollten, was sie so alles für Geld tun würden. Dazu berichtete die „BILD“-Zeitung schon vorab, dass darin ein Mann seine Ehefrau zum Sex anbieten und dafür eine Million DM verlangen würde. Folglich rief die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis zu einem «Bärbel Schäfer»-Einschaltboykott auf, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, wenn sie der „BILD“ nicht geglaubt hätte, denn als die Sendung ausgestrahlt wurde, entpuppte sich die vermeintlich heikle Lage als harmlos. Der Mann und seine Frau hätten so etwas nur interessant gefunden, als sie den Film «Ein unmoralisches Angebot» gesehen hatten. Im Übrigen talkte Schäfer auch in Spezialsendungen über «Big Brother», als dies noch bei RTL lief.
Aufgrund von Sendeplatzwechseln sanken die Quoten im Lauf der sieben Jahre stetig, was aber offiziell nicht der Grund der Absetzung gewesen sein soll – Schäfer wollte nämlich nicht mehr, was aber wohl auch darin begründet lag.
«Vera am Mittag» in Sat.1 war eine der wenigen Daily-Talks, in dessen Sendungsnamen nicht nur der Name der Gastgeberin vorkam. Neun Jahre, von 1996 bis 2005, sprach Vera Int-Veen täglich um 12 Uhr – „High-Noon“ – mit Angehörigen des Unterschichtensumpfes über Themen aus demselben. Sie hatte die wohl proletarischste Daily-Talkshow, die stets ein Sinnbild für die ja ansonsten nicht immer zutreffende Niveaukritik an dem Genre war. So bemerkte Harald Schmidt zum Beispiel in seiner letzten Sat.1-Sendung 2004 zum 20-jährigen Jubiläum des Senders, dass sich Sat.1 doch für 20 Jahre ganz gut gehalten habe, denn schließlich hätten in diesem Alter die Gäste bei Vera schon keine Zähne mehr. Unzählige Sendungen wurden sowohl von Jugendschützern, als auch Medienwächtern gerügt und der Sender mit Geldstrafen belegt. So gibt es auch viele Ausgaben, die in Erinnerung geblieben sind – aber in schlechter und deshalb soll hier keine einzige genau beschrieben werden.
Als Besonderheit ist bei «Vera am Mittag» lediglich anzumerken, dass einmal sogar ein extra Print-Magazin zur Sendung erschienen ist. Vielleicht waren «Vera»-Fans mit dem Lesen des Magazins überfordert, jedenfalls gab es nie eine zweite Ausgabe. Auch von der Sendung gab es ab Januar 2006 keine neuen Ausgaben mehr, denn erstaunlicherweise bemerkte die Moderatorin höchstselbst im Frühjahr 2005, dass „die Zeit der gepiercten Monster-Gäste“ vorbei sei und der Trend in die Richtung ginge, dass die Zuschauer sich selbst wieder erkennen wollten. Doch taten sie dies nicht bis dahin schon längst bei «Vera am Mittag»?!
Wenn nicht, konnten sie es noch etwas länger bei der letzten langlebigen Daily-Talkshow tun, die die einzige war, die das Wort „Show“ im Titel führte: «Die Oliver Geissen Show» lief von 1999 bis 2009 bei RTL und war zusammen mit der heute noch ausgestrahlten «Britt» der einzige verbleibende Nachmittagstalk der späten 2000er.
Veras Zuschauer fühlten sich bei Oli sicherlich wohl, denn die Themenlage war meistens nicht anders: Beziehungs- und Familienprobleme der sozial schwachen Schicht; nur meistens bei jüngeren Leuten, die auch oft einen Vaterschaftstest machen ließen, der dann zum Markenzeichen der Sendung wurde und bei vielen Themen angewendet werden konnte.
Auch bei Geissen kamen manche Ausgaben unter das Schafott der Medienaufsicht, doch generell versuchte der schnoddrig-lustige Oli Geissen gute Laune zu verbreiten und die Dinge nicht so ernst zu nehmen, wie sie zunächst schienen, in Wirklichkeit aber auch gar nicht waren.
Besondere Erinnerungen gibt es an die Sendung vom 4. September 2003, in der eine junge Frau ihrem Partner einen One-Night-Stand beichtete, dieser nebenbei einen Vaterschaftstest machen ließ, der aber bewies, dass die gemeinsame Tochter auch wirklich eine solche war – trauriges Ende der Geschichte: Einige Monate später erwürgte der Mann die Frau.
Ebenfalls eine Besonderheit bei Geissen war zum einen, dass die Show bis Mitte 2004 noch vom Talk-Pionier Hans Meiser mit seiner Firma „Crea-TV“ produziert wurde. Doch in weiser Voraussicht, dass die Firma Meisers mal pleite gehen würde, setzte Geissen ab dann lieber auf seine eigene Produktionsfirma „Norddeich-TV“.
Keine Besonderheit war es hingegen, dass die Quoten nach der Sendeplatzverlegung von 13 auf 14 Uhr im Jahr 2007 aufgrund der Sendezeitverdopplung des RTL-Mittagsjournals «Punkt 12» zu sinken begannen und die Sendung daraufhin knapp zwei Jahre später nach zehn Jahren eingestellt wurde.