Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des wahrscheinlich umstrittensten TV-Senders in der deutschen Fernsehlandschaft.
Der Sender 9Live wurde am 01. September 2001 geboren und stellte die konsequente Weiterentwicklung der jüngsten Aktivitäten des Vorgängers tm3 dar. Dieser hatte nach einigen vielversprechenden Feldversuchen im Tagesprogramm von RTL II namens «Call TV» sein Programm ab April 2001 schlagartig um eine 13stündige Call-In—Live-Schiene erweitert und damit den Weg für die spätere vollständige Umwandlung geebnet. Dabei profitierte der neue Kanal noch indirekt von der vorangegangenen Finanzspritze durch Medienriese Rupert Murdoch, der für die Saison 1999/2000 die Rechte an der «UEFA Champions League» gekauft und damit eine deutliche Verbesserung der Verbreitung von tm3 erwirkt hatte. Zwar war auch der Nachfolger 9Live dadurch fast flächendeckend zu empfangen, doch weil er sich fast ausschließlich aus Telefongebühren finanzierte, entschieden ab diesem Zeitpunkt nur die Anruferzahlen über Erfolg und Misserfolg einer Sendung und nicht mehr die Einschaltquoten.
Um diese möglichst hoch zu halten, entwickelten die Verantwortlichen immer neue Spiele, Bilderrätsel und Aufgaben, die es für die Zuschauer zu lösen gab. Dabei standen stets zwei Varianten besonders im Fokus: Entweder war die Frage sehr einfach, aber die Durchstellung eines Kandidaten dauerte ewig, oder die Aufgabe war schier unlösbar, weil es zu viele mögliche Antworten bzw. einen unklaren Lösungsweg gab. Nicht zuletzt wegen dieser Methoden stand der Sender fast pausenlos in der Kritik. Betrug, Erschleichen von Telefongebühren, unzulässiges Antreiben der Anrufer und vieles mehr wurde den Machern vorgeworfen, die immer wieder mit konzeptionellen Änderungen und Warnhinweisen gegenzusteuern versuchten.
In den letzten Monaten und Jahren verschwammen bei 9Live die Grenzen zwischen den einzelnen Produktionen immer mehr. Zwar hatten diese bis zuletzt formal noch eigene Titel, doch orientierten sie sich eher am Moderationswechsel als an inhaltlichen Unterscheidungen. Dies war noch zu Beginn des Senders anders. In den ersten Jahren versuchten die Verantwortlichen, ein klares Sendekonzept und voneinander unterscheidbare Inhalte durchzusetzen. So wurden anfangs im Format «Alles auf rot» am späten Abend keine Quizfragen beantwortet, sondern kleine Casinospielchen wie „17 und 4“ per Telefon abgehalten. Zudem gab es die Schlager- und Volksmusiksendung «Aber bitte mit Schlager», in der regelmäßig Nachwuchskünstler mit zweifelhafter Qualität auftraten. Sie war das Nachfolgeformat vom «9Live Plattenteller», den zuvor Ex-«ZDF Hitparade»-Gesicht Uwe Hübner moderierte.
Am Wochenende präsentierte B-Sternchen Jenna Kartes, die durch den medialen Kampf zwischen Schlagersänger Christian Anders und dem sogenannten Kitschmillionär Michael Leicher bekannt wurde, in der Show «Do it yourself» Heimwerkertipps. Garniert wurde dies mit der Kochreihe «Sie wünschen? – Wir kochen!» mit ZDF-Regielegende Pit Weyrich. Vorübergehend übernahm der Kanal ab 2002 auch das Umstyling-Format die «Vorher-Nachher-Show» vom Vorgänger tm3. Im Nachtprogramm ging es hingegen freizügiger her. In «La Notte» stellten Erotikdarstellerinnen meist mit freigelegter Brust einfache Fragen rund um die Themen Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Außerdem wurde die Nachtschiene stets mit „Sexy Clips“ gefüllt.
Mit Frederic Meisner, Jörg Draeger, Wolf-Dieter Herrmann, Ricky Harris und Margarethe Schreinemakers übernahm der Sender im Laufe der Zeit gleich fünf ehemalige Sat.1-Gesichter der 90er Jahre. Dabei brachte Meißner ab März 2004 seinen ehemaligen Erfolg «Glücksrad» komplett mit, die in einer abgespeckten Variante und mit Ramona Drews als Buchstabenfee nach einem 12monatigen Intermezzo dort ihre letzte Ruhestätte fand. Draeger übernahm (ebenfalls ab März 2004) die interaktive Zockershow «Alle gegen Draeger», die stark an sein ehemaliges Kultformat «Geh aufs Ganze» erinnerte und immerhin bis Anfang 2007 auf dem Schirm blieb. Schneller ereilte Fernsehpionier Wolf-Dieter Herrmann die Absetzung. Sein interaktives Quiz «Greif an!», das stark an «Wer wird Millionär?» angelehnt war, lief ab Juli 2001 – und damit noch zu tm3-Zeiten - täglich zur besten Sendezeit und hielt sich knapp zehn Monate im Programm. Allerdings wurde Herrmann bereits nach einem halben Jahr als Moderator ersetzt. Sogar noch kürzer blieb der quirlige Ricky Harris an Bord, der eigentlich versucht hatte, nach dem Ende seines fragwürdigen Daily Talks «Ricky!», wieder dauerhaft im Fernsehen Fuß zu fassen. Doch seine Talentsuche «Flash», die ebenfalls schon bei tm3 gestartet war, überlebte nicht lang. Die größte Bauchlandung legte indessen Schreinemakers ab April 2008 mit ihrer Call-In-Sendung hin, die keine Gewinne, sondern Lebensberatung zum Inhalt hatte. Zum Teil lagen die Quoten von «Schreinemakers 01805 - 100 232», die bei ihr im heimischen Studio produziert wurden, im nicht messbaren Bereich. So geriet dieser Versuch zu einem noch größeren Misserfolg als ihr tägliches ARD-Projekt «Schreinemakers».
Auch VIVA-Chaot Frank Lämmermann durfte sich ab Oktober 2005 an einem eigenen Konzept namens «Lämmermanns Keller» versuchen. Ihn hatte der neue Konzernchef Marcus Wolter von seinem früheren Arbeitgeber mitgenommen. Nach nur einem Monat wurde die Mischung aus Comedy und Call-TV, genannt „Calledy“, jedoch ins Nachtprogramm und nach weiteren anderthalb Monaten endgültig verbannt. Lediglich Unterhaltungsveteran Hugo Egon Balder gelang es, mit dem Event «9Live Tanzmarathon» ein Comeback zu feiern, das er später auf anderen Sendern fortsetzen konnte. Zum Ausgleich ebnete der Kanal dafür die Fernsehkarrieren von zahlreichen «Big Brother»-Kandidaten, unter denen Norman Magolei, Alida-Nadine Kurras und Jürgen Milski die bekanntesten sind und zu bleibenden Sendergesichtern wurden. Neben ihnen waren zudem Robin Bade, Tina Kaiser, Anna Heesch, Max Schradin, Marc Wagner und Thomas Schürmann jahrelang auf dem Kanal zu sehen.
Mit seiner simplen Idee fuhr 9Live hohe Gewinne ein und expandierte sogar ins Ausland, indem Lizenzen und Spiele weiterverkauft wurden. Zwar stimmten meist die Gewinne, allerdings blieben die Reichweiten stets minimal. Um dies zu ändern und neues Publikum für die Ratespiele anzulocken, hievten die Verantwortlichen immer wieder Fremdproduktionen ins Programm. So strahlte der Kanal ab Juni 2002 beispielsweise den legendären «Denver Clan» aus – natürlich umrahmt von entsprechenden Quizfragen.
Durch die Einbettung in die ProSiebenSat.1 MediaAG hatte 9Live zudem regelmäßig Zugriff auf das Programmarchiv der Gruppe und wärmte die ehemaligen Formate «Quizfire» und die Sat.1-«Quiz Show» sowie Talk-Clips auf. Mit «Neun TV» wurde ab Januar 2008 sogar ein eigenes Programmfenster für nichtgewinnspielorientierte Inhalte eröffnet, in dem unter anderem die ehemalige Erfolgs-Telenovela «Verliebt in Berlin» wiederholt wurde. Doch auch diese Bemühungen erwiesen sich als wenig nachhaltig, sodass alle Programme bald wieder verschwanden. Am Ende blieb ein durchgängig einheitliches und konsequentes Sendekonzept übrig, bei dem es nahezu egal war, zu welcher Zeit man einschaltete.
Im Laufe der Jahre gingen dann die Anruferzahlen immer weiter zurück. Dies mochte an den immer stärkeren Reglementierungen, der anhaltenden Kritik am Konzept oder aber an einer allgemeinen Übersättigung liegen. Da sich die Produktion zuletzt nicht mehr rechnete und die Einführung eines eigenen Bonus-Programms keine Wende brachte, wurde der Livebetrieb komplett eingestellt.
Der Sender 9Live wurde am 31. Mai 2011 beerdigt und erreichte ein Alter von knapp zehn Jahren. Möge er in Frieden ruhen!
Die nächste reguläre Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann den Anfängen der Call-In Quizshows.