Hingeschaut

«Boris macht Schule», kabel eins macht Reality-Brei

von
Boris Becker macht sich auf, eine Berliner Schule zu renovieren – kabel eins macht sich auf, daraus eine Reality-Soap zu inszenieren.

Wenn die große Karriere zu Ende geht, fristen zahlreiche Ex-Sportler, Ex-Politiker und Ex-Sänger ein abgeschirmtes Leben im internationalen Jetset, gründen ihre eigene Stiftung, lassen sich zweimal im Jahr mit einem dicken Scheck fotografieren und bei «Punkt 12» fortan mit «Society Lady» oder «Charity Man» untertiteln. Nicht so Boris Becker: Der vierfache Vater hat seine Hände natürlich auch in der Reichweite einer Stiftung, verdingt sich nebenbei aber auch als Unternehmer, Investor, Gesellschafter, Reporter und Talkshowgastgeber im Privatfernsehen, Autor, Chef seiner eigenen Videoplattform im Internet und Werbegesicht für Provider, Bierbrauer und Versicherungen – kurzum, seine wahre Berufung hat die ewige Tennislegende offenbar noch nicht gefunden. Das macht aber gar nichts, denn das oftmals so ideenlose Privatfernsehen ist gerne bereit, dem quotenmäßig wenig einträglichen Bobbele immer wieder eine Chance zu geben und ihm eine Spielwiese zur Selbstentfaltung zur Verfügung zu stellen.

Der letzte Coup: Großzügig offerierte Sat.1 Becker die Möglichkeit, sich zur besten Sendezeit von all den Scheckträgern abzuheben und in dem neuen Format «Boris macht Schule» selbst Hand anzulegen: In den maroden Schulen Deutschlands wollte der omnipräsente Medienprofi aufräumen, renovieren, erziehen und eine bessere Welt schaffen. Offenbar fehlte es aber dann doch an der eigenen Courage, sodass der kleine Bruder kabel eins die Sozialdoku zugeschanzt bekommen hat. Quotenmäßig hat Sat.1 damit alles richtig gemacht, denn ein Großteil der Deutschen wollte sich das Leid an deutschen Schulen nicht ansehen. Inhaltlich hat man damit aber einiges verschenkt, denn Beckers Renovierungsshow hebt sich gefühlt deutlich von den vielen prominent besetzen Formaten ab, deren Protagonisten vor allem um sich selbst kreisen.

Gemeinsam mit Architekt Andreas Becher, Bauleiter Bernd Machnik und Kunstpädagogin Emell Gökce wird Becker von über 300 Schülern der Georg-Weerth-Oberschule im Berliner Stadtteil Friedrichshain freudig empfangen und macht sich auf, eine gute Lernatmosphäre für alle zu schaffen. Schnell macht er klar: Alle, Schüler, Lehrer, Eltern und die Bauprofis, müssen an einem Strang ziehen, um die Schule innerhalb von zwölf Tagen zumindest oberflächlich zu renovieren. Das klappt solange gut, bis ein findiger Produzent bemerkte, dass es bei minderjährigen Schülern aus 30 Nationen durchaus Streitpotential gibt. Schnell fuhr der abgehalfterte Doku-Soap-Geist auf die Produzenten der Sendung nieder und ließ die gute Seele des Projekts sterben: Einzelschicksale werden inszeniert, von Becker und Gökce nur mühsam auf eine vertretbare pädagogisch Ebene gerettet, Mobber, Außenseiter und Übergewichtige zu den wichtigsten Protagonisten erklärt, um bloß eine emotionale Ebene zu integrieren.

Offenbar haben die Produzenten von kabel eins außerdem einen Sepiafilter geschenkt bekommen, der in Verbindung mit dem durchaus netten Soundtrack und einem polarisierenden Kommentator, der sich immer wieder zwischen Korrelation und Kausalität verheddert, die ganze Sendung zu dem werden lässt, was alle Zuschauer kennen: Grauer Reality-Einheitsbrei mit Sensationscharakter aus dem Drehbuch. Die gute Idee, der greifbare Enthusiasmus der Schüler, die wichtige und tragende Rolle Beckers als prominentes Vorbild werden vernichtet im Soapsumpf, in der Inszenierung, durch ein Drehbuch, in dem auf einen Konflikt immer ein hollywoodeskes Märchenende folgen muss – dem Anspruch, etwas verändern zu wollen, wird die Sendung nicht gerecht. Schade, denn es hatte den Anschein, als ob «Boris macht Schule» dank eines aufrichtigen Prominenten endlich einmal nicht nur um den Skandal kreist. So wurde zwar die Schule gerettet, die Schüler wurden indoktriniert, die Chance auf ehrliches Fernsehen hat kabel eins allerdings vertan.

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