Es mag einem möglicherweise nicht bewusst sein, aber noch bevor sich Spider-Man von Netz zu Netz durch New York schwang, und bevor Christian Bale als Batman den von schweren Gedanken geplagten Kopf hängen ließ, starteten Marvel und 20th Century Fox mit der Mutantentruppe «X-Men» den heutigen Superheldentrend. 2000 gehörte «X-Men» mit über 330 Millionen Dollar weltweitem Einspiel zu den erfolgreichsten Produktionen des Jahres. Hugh Jackman erlangte Weltruhm und Regisseur Bryan Singer bewies, dass Superheldenfilme trotz Humor eine realistische, ernstzunehmende Sache sein können. Die Fortsetzung erhielt noch größeres Kritikerlob, «X-Men: Der letzte Widerstand» erntete unter dem neuen Regisseur Brett Ratner einige harsche Verrisse. 2009 sollte ein Spin-Off mit Publikumsliebling Wolverine die Kinoreihe mit neuer Kraft versehen, aber das Projekt erwies sich nicht gerade als beliebt bei den Fans.
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Der kalte Krieg ist im vollen Gange. Die USA und die Sowjetunion überbieten sich im nuklearen Wettrüsten, ein Korsett der Angst schürt die Weltbevölkerung. Die CIA-Agentin MacTaggert (Rose Byrne) wird Zeugin, wie ein Colonel von Menschen mit Superkräften erpresst wird, seine Stimme für die Stationierung atomarer Raketen in der Türkei zu stimmen. Ihre Vorgesetzten halten MacTaggert für verrückt, weshalb sie sich zur Stützung ihrer These auf die Suche nach einem Genetik-Professor macht, der derartige Mutationen für möglich hält. Sie stößt auf Charles „Professor X“ Xavier (James McAvoy), der über telepathische Fähigkeiten verfügt. Xavier und seine formwandelnde Sandkastenfreundin Raven können das CIA überzeugen, woraufhin der Geheimdienst eine Eliteeinheit von Mutanten erstellt, um den drohenden Dritten Weltkrieg abzuwenden. Während seiner ersten Mission begegnet Xavier dem Mutanten Erik „Magneto“ Lehnsherr (Michael Fassbender), der sich seit Jahren auf der Suche nach Blutrache befindet: Er ist Überlebender des Holocaust und sucht den kaltblütigen Mörder seiner Mutter, den Ex-Nazi Sebastian Shaw (Kevin Bacon). Der treibt mittlerweile seine Spielchen als durchtriebener Strippenzieher auf dem internationalen, politischen Parkett, und so willigt Lehnsherr ein, sich Xavier anzuschließen…
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Neben dem seine Rolle völlig einvernehmenden Fassbender lädt Co-Star James McAvoy eher zu Qualitätsdiskussionen mit unklarem Ausgang ein. Anders als Fassbender kann McAvoy nicht ganz aus dem Schatten seines Vorgängers (bzw. chronologisch gesehen Nachfolgers) in der Rolle des Professor Xavier schreiten. Schnell entsteht der Eindruck, dass er mit seiner Mimik und Gestik eine unausgefeilte Imitation von Patrick Stewartzum Besten geben will. Im Zusammenspiel mit Fassbender ist McAvoy sehr gut, sie teilen berührende Momente mit ebensolcher Glaubwürdigkeit, wie sie sich in einer pfiffigen, amüsanten Montage augenzwinkernd die Bälle zuspielen. Trotzdem ist McAvoys Repertoire als Xavier zu einseitig, er holt viel zu häufig den selben, idealistischen, zerknautschten Blick der Hoffnung raus (eine grübelnde Faltenstirn mit optimistischem Funkeln in den Augen). Hinzu kommt, dass das Drehbuch Xavier wesentlich einseitiger zeichnet und die wenigen Risse in seinem Strahlemann-Auftreten von McAvoy kurzerhand übertrieben kaltschnäuzig rübergebracht werden. Das polstert letzten Endes das Verständnis, das man als Zuschauer für Erik aufbringen kann, hundertprozentig im Sinne der Filmemacher scheint dies jedoch nicht zu sein.
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Hinsichtlich der Spezialeffekte ist «X-Men: Erste Entscheidung» für eine große Hollywoodproduktion, und noch dazu Teil einer etablierten und erfolgreichen Kinoreihe, erstaunlich inkonsistent. In der ersten Effektszene raubt die beinahe schon erbärmliche technische Umsetzung viel von der Intensität und Glaubwürdigkeit dieser Sequenz, auch der Mutant Beast leidet unter Effektarbeit, die eher an vergangene Tage mäßiger Spezialmasken erinnert, als an einen topaktuellen Blockbuster. Von diesen massiven Schnitzern abgesehen, bewegen sich die digitale und praktische Effektarbeit auf einem soliden Niveau. In den größeren Actionsequenzen steigert sich die Qualität der Spezialeffekte sogar, so dass in «X-Men: Erste Entscheidung» für die Standards in modernen Sommer-Actionstreifen vergleichsweise maue Momente neben erstaunlich guten stehen.
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Regisseur Matthew Vaughn, seines Zeichens großer «James Bond»-Fan, sorgt mit seiner Inszenierung dessen ungeachtet für einen erfrischenden Spritzer Retro-Feeling. In den lockeren Phasen von «X-Men: Erste Entscheidung» wartet man förmlich darauf, dass gleich ein Martiniglas schwenkender Geheimagent um die Ecke spaziert kommt, und diese Grundstimmung eines 60er-Agentenabenteuers passt wirklich gut zu den «X-Men». Dadurch, dass der Science-Fiction-Aspekt weniger hervorgekehrt wird, erhält «X-Men: Erste Entscheidung» eine grundlegende Bodenständigkeit, gleichzeitig verleiht dieses Agentenformat dem Film eine löbliche Spritzigkeit. Auf dieser Basis kann Vaughn die Stärken der «X-Men»-Reihe sehr gut ausspielen: Wie auch die Vorlagen ist «X-Men: Erste Entscheidung» sehr kurzweilige Unterhaltung, die sich aber nicht scheut, solche Themen wie Intoleranz, gesellschaftliches Angstklima oder die Suche nach (Selbst-)Akzeptanz anzupacken.
Bei diesem Balanceakt zwischen sorglosem und nachdenklichem Popcornkino profitiert Matthew Vaughn überdeutlich von seiner Erfahrung mit der Comicadaption «Kick-Ass». Die unkonventionelle Superheldengeschichte war Genre-Dekonstruktion und -Hommage zugleich, und zwischen ihren gewollt albernen, knalligen Lachern äußerte sie schwarzhumorige Gesellschaftskritik. In «X-Men: Erste Entscheidung» vollführt Vaughn zwar nicht solch krasse Stimmungswechsel wie in «Kick-Ass», aber man darf trotzdem erstaunt sein, wie gut er grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen an den Stoff unter einen Hut bringt.
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«X-Men: Erste Entscheidung» ist seit dem 9. Juni in vielen deutschen Kinos zu sehen.