Wie veränderte der 11. September 2001 die Kinowelt? Ein Rückblick auf eine Dekade Anstand, Verdrängung und Verarbeitung.
Am Sonntag jährten sich zum zehnten Mal die Anschläge des 11. Septembers. Die Bilder der brennenden und einstürzenden Türme des World Trade Centers dürfte wohl niemand vergessen, der sie damals ungläubig im Fernsehen verfolgte.
Ein Satz, den sicherlich viele mehrfach gehört haben, oder sogar selbst einmal sagten, ist die erschütterte Feststellung: „Zuerst dachte ich, das sei Werbung für einen neuen Katastrophenfilm.“ Ich selbst erfuhr während des laufenden Nachmittag-Fernsehprogramms durch eine Texteinblendung am unteren Bildrand davon, dass ein Flugzeug in einen der beiden Türme raste. Daraufhin schaltete ich auf einen Nachrichtensender, wo noch spekuliert wurde, ob dies ein tragischer Unfall oder ein Anschlag sein könnte. Die restliche Tragödie konnte ich mit eigenen Augen am Fernseher mitverfolgen – der Gedanke, einen Trailer für einen Roland-Emmerich- oder Michael-Bay-Kracher zu sehen, konnte mir am 11. September 2001 also kaum ferner sein.
Während die Filmwelt meine Wahrnehmung der Ereignisse des 11. Septembers nicht beeinflusst hat, so waren die Nachwirkungen der terroristischen Attentate in der Filmlandschaft unübersehbar. Ganz gleich, ob nun künstlerische Filme, die ein Ausdruck der Befindlichkeit und Gedanken ihrer Macher sind, oder kommerzielle Massenunterhaltung; Filme lassen im Regelfall Rückschlüsse auf die kulturelle Stimmungslage zu. Selbstverständlich ging 9/11 nicht spurlos an diesem Medium vorbei.
Die Reaktionen waren zahlreich und decken ein breites emotionales, sowie rationales, Spektrum ab. Dachten einige Menschen bei den Bildern des brennenden World Trade Centers zunächst an Hollywood-Filme, war klar, dass sich dies nach diesem schicksalhaften Ereignis schlagartig ändern würde, und vorerst Bilder der Zwillingstürme unwohle Erinnerungen an den 11. September hervorrufen werden. Somit gab es eine lange Phase des Respekts, in der das World Trade Center zunächst aus der Kinolandschaft verschwand. Vor allem in den USA wurden auch Jahre später Fernsehausstrahlungen von Filmen wie «Armageddon», in dem ein Metoritenhagel New York inklusive der ikonischen Türme verwüstet, entsprechend gekürzt. Auch Filme, die sich noch in Produktion befanden und 2002 ins Kino kommen sollten, erfuhren nahe liegende Änderungen. Der Disney-Zeichentrickfilm «Lilo & Stitch» sah einen Actionklimax vor, in welchem das freche Alien Stitch während einer Verfolgungsjagd eine Boeing 747 entführt, und mit ihr durch Honolulu fliegt. Währenddessen weicht er auch zahlreichen Wolkenkratzern haarscharf aus. Die Verfolgungsjagd wurde im endgültigen Film in ländlicheres Gebiet verlegt und statt eines Flugzeugs nutzt Stitch ein Raumschiff. «Men in Black II» sollte ursprünglich damit enden, dass sich das World Trade Center öffnet, um als Startrampe für zahlreiche Raumschiffe zu dienen.
Für andere Produktionen war der Abstand zu den Terroranschlägen zu klein, als dass notwendige Änderungen möglich gewesen wären. Die Komödie «Jede Menge Ärger» mit Tim Allen handelt unter anderem davon, dass Waffenhändler mittels eines Flugzeugs eine Atomwaffe transportieren. Als US-Kinostart war der 21. September 2001 vorgesehen. Stattdessen erhielt der Film einen Alibi-Start am 5. April des Folgejahres, und auch dieser zeitliche Abstand genügte nicht, um Kinogänger wieder dazu zu bringen, eine Komödie über solche Themen zu sehen. Auch in Deutschland wurde «Jede Menge Ärger» lange verschoben, bis das Studio ihn letztlich im September 2003 als DVD-Premiere veröffentlichte. Und die Actionkomödie «Bad Company» von Actionproduzent Jerry Bruckheimer wurde aufgrund ihres Terrorismus-Plots, der noch in lockerer Prä-9/11-Manier abgehandelt wurde, vom Winter 2001 auf den nachfolgenden Sommer verschoben, stark gekürzt und letztlich völlig ignoriert.
Während das Actionkino und Komödien lange vermieden, ihr Publikum auf irgendeine Weise an den 11. September und/oder Terrorismus allgemein zu erinnern, wagten sich Dramen viel früher an das Thema heran, um das Ereignis selbst oder Änderungen in der Befindlichkeit Amerikas zu reflektieren. Bereits 2002 kam der Episodenfilm «11'09''01 - September 11» in die Kinos, eine Sammlung von elf Kurzfilmen aus der Hand elf internationaler Regisseure, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Attentate zurückblicken. Der Kurzfilm, der wohl am ehesten zumindest etwas Medienecho erhielt, zeigte einen Witwer, der in einer dunklen Wohnung seiner verstorbenen Frau gedenkt, deren Blumen langsam verkümmern. Am Schluss blühen sie wieder auf, da sie durch den Einsturz der Zwillingstürme wieder an die Sonne gelangen. Diese Episode, gedreht von Sean Penn, steht wohl repräsentativ für das gesamte Projekt: Künstlerisch wertvoll, doch so zeitnah am Geschehen ungewollt auch recht grob im Umgang mit den offenen Wunden vieler Menschen.
Ebenfalls 2002 kam der womöglich beste Film in die Kinos, der sich mit diesem Thema befasste: Spike Lees Drama «25 Stunden», mit einem sensationellen Edward Norton in der Hauptrolle. Als Adaption eines Romans aus dem Januar 2001 behandelt die Geschichte eines New Yorkers Drogenhändlers, der seine letzten Stunden in Freiheit ablebt, den 11. September nicht zentral. Doch die Handlung wurde ins New York nach den Anschlägen verlegt und Regisseur Spike Lee skizziert mit wenigen Szenen und impressiven Aufnahmen die damalige Stimmungslage in der Metropole. Mit sehr nachhaltiger Wirkung.
Paul Greengrass ging direkter an das Thema heran: Sein Historiendrama «Flug 93» basiert auf sämtlichen bekannten Daten über den Flug United Airlines 93, welches am 11. September von Terroristen entführt wurde, deren Ziel wahrscheinlich das Weiße Haus oder das Capitol war. Die Passagiere widersetzten sich, und das Flugzeug stürzte letztlich über einem Waldgebiet ab. In Echtzeit gedreht und möglichst authentisch umgesetzt, wurde «Flug 93» 2006 als fesselnd, beklemmend und aufgrund fehlender Sensationsgier von der Presse gefeiert, jedoch wurde er aufgrund seiner emotional intensiven Machart auch kommerziell untauglich, gerade in den USA empfanden zahlreiche Zuschauer, dass es noch immer zu früh für solche Filme sei. Ebenfalls 2006 versuchte sich auch Oliver Stone an diesem Thema. Sein Drama «World Trade Center» handelt von zwei New Yorker Polizisten sowie einem Überlebenden des Unglücks. Sowohl an den Kinokassen, als auch bei den Kritikern fand Stone mit diesem Film passablen Erfolg, als filmische Wiedergabe der Tragödie dürfte «World Trade Center» allerdings bereits größtenteils in Vergessenheit geraten sein.
Doch der 11. September veränderte das Kino, insbesondere jenes aus Hollywood, nicht bloß, indem im Unterhaltungsbereich als direkte Antwort gewisse Szenen geschnitten oder umgeschrieben wurden, während im anspruchsvolleren Sektor die Ereignisse thematisiert wurden. Die Auswirkungen können auch viel subtiler und indirekter sein. Für Filmhistoriker und Medienwissenschaftler tut sich nun, eine Dekade nach den Anschlägen, ein gesamtes Forschungsgebiet auf, indem es zu untersuchen gilt, wie sich insbesondere das Blockbusterkino vor und nach 9/11 voneinander unterscheidet.
Das Actionkino der vergangenen Jahre hat eine deutlich fantastischere Note, als etwa das der 80er und 90er. Ob verfluchte Piraten in den «Pirates of the Caribbean»-Filmen, außerirdische Roboter in der «Transformers»-Reihe oder zahllose Superhelden, all das sieht man mittlerweile deutlich häufiger auf der großen Kinoleinwand, als (Ex-)Polizisten, die in einer amerikanischen Großstadt auf der Jagd nach Verbrechern eine Schneise der Zerstörung nach sich ziehen. Gewiss wäre es übertrieben anzunehmen, dass Hollywood bis heute aus Anstand auf „realistische“ Kinogewalt der Marke «Lethal Weapon» verzichtet. Oder dass das Publikum weiterhin sehr sensibel darauf reagiert. Dass dem nicht so ist, zeigte ja unter anderem «Stirb langsam 4.0». Aber dass auch aufgrund des 11. Septembers zu Beginn des letzten Jahrzehnts übernatürliche oder sonstige andersweltliche Elemente gefragter waren, als die handelsübliche Kinoaction, ist eine sehr solide These, mit der sich Filmforscher bereits ausgiebig beschäftigen. Und da Hollywood erfolgreiche Trends erst aufgibt, wenn sie zu Kassengift mutieren, hallt der filmkulturelle Schock nun mal bis in die Gegenwart nach. Auch wenn Studien beweisen, dass in den USA kurz nach den Anschlägen in Videotheken die Nachfrage nach «Stirb langsam» und Co. enorm in die Höhe schoss.
Wie die Diskrepanz zwischen den Kinoreaktionen und der heimischen Filmunterhaltung zu erklären ist, daran darf sich die Wissenschaft gerne noch die Zähne ausbeißen. Manches lässt sich halt nicht so einfach erklären, wie man es gerne möchte