Statt aufregendem Live-Voting geriet das Voting von «Unser Star für Baku» zum zufallsgetriebenen Aufreger. Und das hat mathematische wie menschliche Gründe.
Statistisch gesehen hat der Anteil der Nichtwähler bei der Bundestagswahl mit 29,2% einen historischen Höchststand erreicht. Bei Castingshows dürfte diese Zahl zwar noch viel höher sein, dafür wird bei «Unser Star für Baku» nun mit System gewählt.
«Unser Star für Baku» ist die derzeit spannendste Casting-Show im deutschen Fernsehen, manch einer möge behaupten der gesamten deutschen Fernsehgeschichte. Im Live-Voting über die gesamte Sendung ist der aktuelle Stand der Abstimmung jederzeit einzusehen, am Ende der Abstimmungsphase glühen die Leitungen, ständig verschieben sich die Platzierungen, Kandidaten geraten in die Abstiegszone und zurück in den Qualifikationsbereich. Wer es am Ende schafft, entscheidet sich erst in den letzten Sekunden, wenn die Nerven bei Sängern, Jury und Publikum gleichermaßen blank liegen.
Vielleicht sollte ProSieben eine neue Show starten, in der Kandidaten einem Zufallszahlengenerator zusehen und dann ihren Gewinn absahnen, sobald dieser ihre persönliche Glückszahl auswählt. Das wäre genauso spannend, denn im Prinzip ist «Unser Star für Baku» in großen Teilen nichts anderes: Glücksspiel in aufwendiger Verpackung, veredelt mit den Vorteilen, Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können und gleichzeitig jede Menge Einnahmen aus dem Telefonvoting zu scheffeln. Dass am Ende der beiden ersten Ausgaben die Prozentzahlen der sechs Höchstplatzierten kaum voneinander zu trennen waren, ist jedenfalls kein Zufall, sondern reine Mathematik und ein bisschen kalkulierbarer Menschenverstand.
Phase 1: Das Leistungsvoting
Den Großteil der Show über verhält sich «Unser Star für Baku» in Sachen Abstimmung eigentlich nicht viel anders, als man es von anderen Castingshows auch gewohnt ist. Zwar zeigt die Live-Tabelle immer den aktuellen Zwischenstand, angerufen wird aber fast nur für den Kandidaten, der gerade seinen Auftritt absolviert sowie in den Minuten danach. Von diesem Kandidaten abgesehen ist die Tabelle beinahe einbetoniert. Ist ein Auftritt gelungen, so gehen viele Anrufe ein und der Kandidat steigt nach weit oben. Geriet der Auftritt zur Nullnummer, so langt es nicht für die oberen Plätze, doch selbst dann geht es aufwärts.
Die Tabelle ein paar Minuten nach dem letzten Auftritt gibt also als einzige die tatsächliche Meinung des Publikums über die Leistung der Kandidaten wieder. Hier sind die Prozentwerte deutlich ausdifferenziert und das sah in der zweiten Sendung einige Minuten nach dem zehnten und letzten Auftritt durch Kandidatin Vera folgendermaßen aus:
14.9% Yana
13.6% Vera
12.2% Ornelia
11.0% Sebastian
10.8% Umut
10.8% Rachel
8.8% Tina
6.6% Andrew
6.1% Jörg
5.2% Polly
Die ersten drei Kandidaten hatten sich abgesetzt, die vier am Ende der Tabelle wirkten chancenlos, dazwischen schien es einen Dreikampf um die beiden Plätze vier und fünf zu geben, die noch den Einzug in die nächste Runde bedeuteten. Gehen wir einmal davon aus, dass dies die tatsächliche Meinung der Zuschauer ist, also die Chance, dass der nächste Anrufer wieder Vera wählt, bei 13,6% liegt - Vera ist die tragische Figur des Abends - so liegt die Chance für Vera auszuscheiden schon bei nur 10000 Anrufen bei erstaunlichen null Prozent. Platz sechs machen Sebastian, Umut und Rachel unter sich aus. Die Zuschauer haben sich ihre Meinung gebildet - dass sie sie in den letzten Minuten wieder umwerfen, ergibt keinen Sinn. Würde ProSieben an dieser Stelle das Voting beenden, man hätte ein klares Meinungsbild der Anrufer.
Phase 2: Die Angleichung
Doch nun kommt der menschliche Faktor ins Spiel. "Noch ist das Spiel für niemanden vorbei" heißt die Devise; die Zuschauer werden zum Anrufen motiviert und für Kandidaten, die dringend Stimmen benötigen, sowieso. Nehmen wir nun einmal an, dass sich das Anrufverhalten dahingehend ändert, dass nur noch die vier Fünftel der Anrufe tatsächlich leistungsmotiviert sind, das übrige Fünftel jedoch auf die Kandidaten entfällt, die zum Anrufzeitpunkt auf den Plätzen vier bis sechs um den Einzug in die nächste Runde kämpfen, so pendeln sich die Zahlen der ersten sechs ganz automatisch ein:
In diesem Szenario dauert es gerade einmal 2000 Anrufe bis die Plätze drei bis sechs gleichauf sind, nach gut 7000 Anrufen ist auch Platz zwei eingeholt. Und auch der erste Platz wäre im Laufe der Zeit abgefangen worden. Wie man diese Parameter auch dreht - am Ende läuft ein erhöhtes Anrufaufkommen für die Kandidaten "in Gefahr" immer darauf hinaus, dass alle Kandidaten von Platz 6 aufwärts gegen dieselbe Punktzahl streben. Das Leistungsvoting trifft bloß eine Vorauswahl: Die Kandidaten auf den unteren Rängen bleiben auch dort.
Phase 3: Das Prinzip Zufall
Sind erst einmal alle Kandidaten um die kritischen Plätze herum auf einen Nenner gebracht, ist es beinahe jede einzelne Stimme, die den Unterschied ausmachen kann und diese treffen im Einzelnen immer noch sehr zufällig ein. Besonders da jeder Kandidat, der auf Platz sechs fällt dadurch noch einmal ordentlich in den Anruferzahlen gepusht wird, findet auf dieser Position ein stetiger Wechsel statt, bei dem jeder einmal nach hinten und nach vorne gerät. Hier kommt es nur noch auf den Augenblick an, in dem man auf die Tabelle schaut und nicht mehr um eine wertende Struktur dahinter.
Phase 4: Das Urteil der Jury
Um aus dem Chaos ein klares Ergebnis zu schaffen, braucht es eine ordnende Hand. Der Zuschauer hat sie nicht, ganz im Gegenteil zur Jury. War es in der ersten Ausgabe Stefan Raab, der Kandidat Roman, der kurz davor war, in die gefährdete Zone zu rutschen, mit einem beherzten Zuschaueraufruf noch so viele Stimmen bescherte, dass er sich mit weitem Abstand vor den anderen platzieren konnte, so wurde in der zweiten Ausgabe Kandidatin Rachel diesen Gefallen getan. Vom sechsten Platz sprintete sie daraufhin nach vorne, war am Schluss Erste und das mit einem respektablen Abstand zur Abstiegszone.
Leider vergaß die Jury, auch Werbung für die wenige Minuten zuvor noch sicher platzierte Vera zu machen. Vera wurde sechste, schied aus. Juryvorsitzender Thomas D. vergrub fassungslos den Kopf in seinen Händen. Im Eifer des Gefechts wohl über die unglaubliche Entscheidung des Publikums. Mittlerweile hoffentlich über die schiere Sinnlosigkeit des Abstimmungsverfahrens.
Eigentlich sollte man glauben, dass die Zuschauer sich ihre Meinung nicht von der Jury diktieren lassen. Doch in einem System, indem die Anrufe sich per se neutralisieren, reichen auch kleine Ausschläge um die gewünschte Wirkung zu erzielen. So erreicht «Unser Star für Baku» vieles mit dem neuen Votingsystem: Pseudo-Spannung durch knappe Zwischenstände und stetige Positionswechsel. Enorme Einnahmen, da nur permanentes Anrufen hilft, den eigenen Favoriten im Spiel zu halten. Und zu guter Letzt setzt eine Handvoll loyaler Zuschauer auch noch das Juryurteil um.
Spannend wird es am nun in der dritten Ausgabe, wenn von zehn Kandidaten nur noch zwei ausscheiden. Auch hier kann man nach dem gleichen Prinzip folgern: Wenn die Abstimmzeit nur lange genug läuft, wird es mindestens auf einen Neunkampf hinauslaufen. Ob da nicht langsam mal die Wahlaufsicht stutzig werden müsste?