Die Kino-Kritiker

«Hugo Cabret»

von
Martin Scorseses für elf Oscars nominiertes Familienepos sieht überragend aus und liebt das Kino, aber der Geschichte mangelt es an eigenem Leben.

Martin Scorsese ist einer der am meisten verehrten Regisseure unserer Zeit. In den Siebzigern war er Teil der New-Hollywood-Bewegung, und während viele seiner Kollegen der Trivialität oder dem Kommerz anheim fielen, kann sich Scorsese nahezu ungebrochen der Zuneigung von Kritikern und Cineasten erfreuen. Oft beschäftigte sich der Meisterregisseur damit, einen unbeschönigten Blick auf das gewaltsame Amerika zu werfen. Man denke nur an «Taxi Driver», «GoodFellas» oder «Gangs of New York». Doch Scorsese ist ein Multitalent, das sich auch Komödien, Konzertfilmen, biographischen Dramen und Sportfilmen annahm. Letztlich kann er sich für jede Form des bewegten Bildes erwärmen, was sich am besten in seinem Engagement für die Präservation von Filmen widerspiegelt.

Diese allumfassende Faszination für die Filmkunst ist zugleich das wichtigste Merkmal von «Hugo Cabret». Viele Kritiker, insbesondere in den USA, wählten stattdessen die Kindertauglichkeit des neusten Scorsese als Aufhänger. Doch selbst wenn «Hugo Cabret» die wohl kinderfreundlichste Regiearbeit des Oscar-Preisträgers sein dürfte und mit ihrer technischen Verspieltheit zum unschuldigen Staunen einlädt, so ist sie eben nicht Scorseses atypischer Abstecher in ein ihm fremdes Gebiet. «Hugo Cabret» gehört viel eher zu den persönlichsten Werken, die der Filmenthusiast bislang vollbrachte. Leider bricht der hinter dem Leinwandzauber stehende Künstler sogar zu deutlich hervor.

Aber alles schön der Reihe nach: «Hugo Cabret» beginnt als ein mit Geheimnissen und überwältigenden Schauwerten gespicktes Familienabenteuer, dem eine berückende, manchmal sogar bedrückende Melancholie innewohnt. Der Film handelt vom Waisenjungen Hugo Cabret (Asa Butterfield), der sich im Paris des Jahres 1930 im Gare Montparnasse um die zahlreichen Uhrwerke kümmert und stets auf der Flucht vor dem Waisen schnappenden Inspektor Gustav (Sacha Baron Cohen) befindet. Seit dem Tod seines Vaters hat es sich Hugo zur Lebensaufgabe gemacht, eine komplexe Aufziehfigur zu reparieren, wozu er immer wieder Kleinteile bei einem gefrusteten Spielzeugmacher (Ben Kingsley) klaut.

Scorsese und Drehbuchautor John Logan erzählen den Anfang ihrer Geschichte mit einer immensen Geduld. Sie stellen weniger das Vorantreiben der Handlung in den Vordergrund, als dass sie die Handlung nutzen, um die Wunder ihrer beinahe an Steampunk erinnernden Welt aneinanderzureihen. Die Computereffekte sind fantastisch, Scorsese nutzt das scharfe und überaus tiefe 3D, um das Publikum inmitten des Geschehens zu versetzen und die Filmmusik ist betörend. Zu guter Letzt unterstützt Robert Richardsons ausgeklügelte Kameraarbeit den beinahe traumartigen Charakter der ersten Hälfte von «Hugo Cabret». Es benötigt etwas Gewöhnungszeit, aber sofern man sich als Erwachsener darauf einlässt, sind die schwermütig-magische Stimmung des Films und seine visuelle Macht außerordentlich einvernehmend. Auch wenn man ihm schon früh manche Mängel verzeihen muss.

So ist er für Kinder, die Scorsese mit seinem neusten Werk augenscheinlich ansprechen möchte, zu grüblerisch, während die zahlreichen, unbedeutsamen Comedy-Nebenplots in ihrer zeitraubenden Ausführlichkeit dem älteren Zuschauer einige Nerven kosten könnten. Trotzdem lässt sich «Hugo Cabret» anfangs als ungewöhnlicher „atmosphere and style over substance“-Film akzeptieren, dessen potentiell gehaltvolle Geschichte durch die kolossale Inszenierung untergeht.

Sobald sich der von Filmen begeisterte Hugo mit der buchvernarrten Nichte des Spielzeugmachers («Kick-Ass»-Überraschung Chloë Moretz) anfreundet, zeichnet sich ab, dass Scorsese mit diesem Epos eine Liebeserklärung ans Kino beabsichtigt. Diese erfolgt jedoch in einem völlig anderen Tonfall, als zuvor in «Hugo Cabret» angeschlagen, tauscht die zentrale Figur des Films aus und zeugt obendrein alles andere, als von Subtilität. Ben Kingsley fungiert hier als Scorseses Sprachrohr, um ambitioniert von früherer Pionierarbeit unter Filmemachern zu berichten.

Die Botschaft, wie kulturell bedeutsam die Filmpräservierung sei, und dass auch rein dem Eskapismus gewidmete Filme die Träume großer Künstler einfangen, vermittelt Scorsese nicht mit einem behänden Zauber, sondern mit erhobenem Zeigefinger. Kinobegeisterte Zuschauer werden sich von der Passion dieses Lobliedes mitreißen lassen und eventuell sogar noch ein paar interessante Details über die ersten großen Effektfilme lernen. Trotzdem kann «Hugo Cabret», sobald diese Richtung eingeschlagen ist, nicht diesen überdeutlichen Geschmack abstreifen, dass ein Werbefilm für Scorseses Filmbewahrungsorganisation in das zuvor begonnene Familienabenteuer einfiel. Ist die cineastische Lehrstunde erst beendet, werden die ursprünglichen Erzählstränge wiederum mit einer solchen Hast zum Abschluss gebracht, dass es fast einem narrativen Betrug gleichkommt.

Nicht, dass Scorsese ein schlechter Botschafter der Filmhistorik wäre. Er verfügt über das Wissen und die Leidenschaft, um mit seinem Exkurs zu fesseln. Allerdings zerfällt «Hugo Cabret» durch seinen Fokuswechsel in zwei ungleiche Teile, die aus gänzlich anderen Beweggründen eine Magie ausstrahlen und sich einander an der vollen Entfaltung hindern. Die Stummfilm-Lektion wirkt durch die tonal ganz andere Vorgeschichte oberlehrerhaft, während der Handlungsstrang von Hugo durch den späteren Schwerpunkt des Films nicht weiter die ihm gebührende emotionale Aufmerksamkeit erhält.

Die thematische Zweigleisigkeit von «Hugo Cabret» ist zwar auch der Kinderbuchvorlage geschuldet, allerdings ist es Regisseur Martin Scorsese, der alles andere bei Seite schiebt, sobald er bei seinem Lieblingsthema angelangt. Somit ist es nicht die Schuld des Jugendbuchautors Brian Selznick, dass auf Grundlage seiner Idee ein Film wurde, der technisch brilliert und ein Herz fürs Kino hat. Jedoch vergisst er, seiner eigenen Geschichte nachhaltig Leben einzuhauchen.

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