Die Academy feierte dieses Jahr die Vergangenheit. «The Artist» ehrte die Filmkunst durch seinen Retro-Stil, «Hugo Cabret» mit Spektakel.
Dank der Verleihung der Academy Awards gibt es jedes Jahr eine kurze Phase, in der die Welt nach Hollywood blickt, um zuzuschauen, wie sich die Unterhaltungsfabrik selbst zelebriert. Selten traf diese Beobachtung besser zu, als bei der 84. Oscar-Verleihung. Denn das wiederkehrende Thema der diesjährigen Oscar-Gewinner ist das der Film-Hommage. Jeweils fünf Trophäen gingen an «The Artist» und «Hugo Cabret», beides liebevolle Verneigungen vor der Stummfilmära, während sich mit «Rango» eine gleichermaßen ehrfürchtige wie parodistische Western-Hommage als bester Animationsfilm durchsetzte. Abgerundet wurde das Jahr der Nostalgie mit dem animierten Kurzfilm «The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore» sowie Woody Allens Oscar-prämierten Drehbuch zu «Midnight in Paris», welches das Gefühl, einer anderen Ära anzugehören charmant und intellektuell ansprechend reflektiert. Und auch der für den besten Song ausgezeichnete Film «Die Muppets» behandelte mit der Karriere seiner Titelhelden sowie ihren früheren Filmen vergangene Kinozeiten.
Gewissermaßen fand somit der filmische, postmoderne Zeitgeist Einzug in die Geschichte der Academy Awards. Produktionen wie Robert Rodriguez' & Quentin Tarantinos «Grindhouse», die aufgedrehte Komödie «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt» oder die Blaxploitation-Parodie «Black Dynamite» sind schlichtweg kein Oscar-Material. Doch die offene, meist auch komödiantische, Reflektion von Genre-Konventionen sowie filmischen Klischees, aber auch der hohen Qualität und Innovationsfreude vergangener Filme ist längst Alltag in der Filmwelt geworden. Bislang lief diese Entwicklung weitestgehend am größten aller Filmpreise vorbei, aber dieses Jahr fielen die nötigen Faktoren zusammen.
Die Abräumer des Abends behandeln ihre Nostalgie weitestgehend ernsthaft, sie beide sind erzählerisch bodenständig und nicht so hip-frenetisch wie etwa «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt». «The Artist» traf mit seiner bewussten technischen Einschränkung inmitten lärmender, visuell überbordender und kostspieliger Mega-Blockbuster den Nerv jener, die sich nach einem ruhigeren Kinoerlebnis zurücksehnten. «Hugo Cabret» ging die entgegen gesetzte Richtung, und nutzte Scorseses versierte Hand, um mit den Schauwerten eines mindestens 150 Millionen Dollar schweren Spektakels auf die Imagination, Passion und Pionierarbeit früher Kinojahre hinzuweisen. «Rango» verpackte wiederum seine exzentrischen, quirligen Filmreferenzen und Genre-Experimente in ein leicht zugängliches Korsett – und das obendrein in einem Jahr mit schwächelnder Konkurrenz. Schon waren die Weichen gelegt, damit die Academy Filme feiern kann, die andere Filme feiern.
Auffällig ist, dass die so gegensätzlich gestalteten «The Artist» und «Hugo Cabret» mit ihren jeweils fünf Gewinnen den Trend des letzten Jahres fortführen: 2011 gewannen «The King's Speech» und «Inception» jeweils vier Preise, wodurch das kleinere, Schauspieler in den Fokus rückende Kino ebenso sehr berücksichtigt wurde, wie das aufwändigere, audiovisuell beeindruckende. Auch damals gab es keinen klaren Sieger mit großem Abstand vor der Konkurrenz. In den drei Jahren davor sah das noch anders aus, jedes Mal setzte sich ein Film stärker von seiner Oscar-Konkurrenz ab.
Außerhalb der beiden großen Favoriten kam es während der 84. Verleihung der Academy Awards zu einer gehörigen Überraschungen, selbst wenn es nicht jedem Fernsehzuschauer bewusst sein sollte. Die größte Sensation des Abends, und darüber wird wohl leider kaum berichtet, ist nämlich die Ehrung des Cutter-Duos hinter dem Thriller «Verblendung». Kirk Baxter & Angus Wall (Oscar-gekrönt für «The Social Network») legten damit jegliche Statistik in Schutt und Asche, dass nur von der Cutter-Gewerkschaft ausgezeichnete Werke auch den Oscar gewinnen können. Als düsterer, nicht aber actionreicher Thriller ist «Verblendung» darüber hinaus alles andere, als ein typischer Gewinner in dieser Kategorie. Die weit verbreitete Beschwerde, die Academy würde nie aus ihrer Komfortzone ausbrechen, ist also nicht völlig berechtigt.
Durchaus unerwartet kam auch der dritte Oscar für Meryl Streep. Die Actrice wurde bereits 17 mal nominiert, und selbst wenn ihr nach den BAFTAs kleinere Chancen eingeräumt wurden, so war Viola Davis für ihre Leistung in «The Help» die erwartete Siegerin.
Hinsichtlich des Show-Faktors waren die 84. Academy Awards eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr. Dennoch machte der routinierte, keine Wagnisse eingehende Billy Crystal mit seiner Moderation nicht gerade Werbung für einen eventuellen zehnten Oscar-Gig. Obwohl Crystal den Abend mit einem sehr amüsanten Einspieler begann, in dem er durch die Filme des Jahres wanderte, und er die traditionellen Spitzen gegen die nominierten Werke kurzweilig in Gesang verpackte, verlor er im Laufe des Abends an Zugkraft.
Die spontanen Einfälle, mit denen er zum Beispiel 2004 die vorhersehbare Nacht des «Der Herr der Ringe»-Durchmarchs auflockerte, waren nahezu abwesend. Und generell schien Crystals freundlicher Stil seit seinem letzten Auftritt an Biss verloren zu haben, weshalb er zum Schluss nur noch wie ein Relikt wirkte. So kam es, dass ihm Laudatoren wie die vor Energie sprühende Emma Stone oder das eingespielte Duo Robert Downey junior/Gwyneth Paltrow die Show stahlen. Dem Showabend mangelte es zudem, anders als der Liste der Oscar-Gewinner, an einem roten Faden, weshalb der Unterhaltungsfaktor der Oscar-Nacht stark vom generellen Interesse des jeweiligen Zuschauers abhängig sein dürfte. Ideen wie eine Parodie der im Filmgeschäft üblichen Testvorführungen oder eine artistisch beeindruckende, thematisch allerdings zusammenhanglose Cirque-du-Soleil-Performance schienen ohne größeren Plan in den Ablauf eingefügt und konnten die gestrichene Darbietung der nominierten Songs nicht angemessen ersetzen.
Lobenswert sind dagegen die etwas ausführlicheren Vorstellungen ausgewählter technischer Kategorien. Hier sollte die Academy Durchhaltevermögen beweisen und in den kommenden Jahren zum Ausgleich die Sparten, die in der vergangenen Nacht kürzer treten mussten, mit mehr Aufmerksamkeit bedenken. Nur so werden weniger interessierte Zuschauer an diese Randkategorien herangeführt, was wiederum deren Akzeptanz beim TV-Publikum erhöhen könnte. Zumindest den Versuch sollte es wert sein. Damit irgendwann nicht nur die ärgsten Oscar-Nerds erstaunt aufspringen, wenn solche Überraschungen wie der Schnitt-Oscar für «Verblendung» geschehen.