Schlüter sieht's

«Schlüter sieht's»: Das TV-Geschäft mit dem Tod

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In China werden Verurteilte kurz vor ihrer Hinrichtung interviewt. Ein Kommentar.

Wie weit darf Fernsehen gehen? Werden Moral und Ethik in der heutigen TV-Landschaft immer weiter zurückgedrängt? Bleibt die Würde des Menschen zugunsten der Einschaltquote und des Senderprofits immer mehr auf der Strecke? Es ist schwierig, auf diese Fragen gute Antworten zu geben, die mit Zahlen untermauert werden könnten. Sieht man von irgendwelchen solcher Zahlen ab, würden aber wohl die meisten Zuschauer von einer zunehmenden „Verrohung des Fernsehprogramms“ sprechen, wenn man das so nennen will.

Aber wie soll man nun moralisch eine Sendung einordnen, die zum Tode verurteilte Verbrecher kurz vor ihrer Hinrichtung interviewt? Ein solches Programm gibt es in China. Schon seit fünf Jahren. Mindestens 30 und bis zu 40 Millionen Menschen schalten ein, weil sie sehen wollen, was die Verurteilten vor ihrem Tod zu sagen haben, was sie fühlen, wie sie über ihre Taten denken. Die Moderatorin macht bei ihren Interviews vor nichts halt, fragt in aufdringlicher Boulevard-Manier nach intimen Geheimnissen, Homosexualität, der Familie und nach den Ermordeten.

Nun wurde «Interviews vor der Hinrichtung», gesendet aus der zentralchinesischen Provinz Henan, kurzfristig abgesetzt. Ein Hintergrundbericht der Süddeutschen Zeitung vermutet dahinter eine Reaktion auf eine neue BBC-Dokumentation namens «Dead Men Talking», in der die Interview-Sendung zentrales Thema ist. Auch beseitigen die Behörden derzeit alle Spuren des Formats, darunter Videos aus dem Internet. Klar, was China mit der Sendung in den letzten Jahren bewirken wollte: Das Land wollte abschrecken, an den Pranger stellen, den Zuschauern bewusst machen: Diese Erniedrigung kann euch auch widerfahren, wenn ihr euch nicht an unser Gesetz haltet.

Dass man offenbar stolz war auf diese funktionierende Art von „Volkserziehung“, zeigt auch, dass die BBC Interviews mit der Moderatorin der Sendung führen durfte. Dass «Interviews vor der Hinrichtung» im Gegenteil eher ein gutes Argument dafür ist, wie Menschenrechte (Stichwort Würde) in diesem Land behandelt werden, ist anscheinend nicht aufgefallen. Erst jetzt – wenn Medien aus aller Welt über die BBC-Doku berichten und protestieren – erkennt man einen perversen Fehler und nimmt die Sendung aus dem Programm. Und schämt sich vielleicht dafür.

Die «Interviews vor der Hinrichtung» sollten allerdings als Einzelfall betrachtet werden und schon gar nicht den Schluss zulassen, das Fernsehen verrotte generell immer mehr. Mit Deutschland oder der westlichen TV-Entwicklung hat das alles nichts zu tun. Die Einschaltquote – hierzulande beispielsweise maßgebend im Privatfernsehen – spielt wohl in China nur eine untergeordnete Rolle. Und der zunächst beeindruckenden Zahl von angeblich 40 Millionen Zuschauern dieser Sendung darf ebenfalls nicht einfach geglaubt werden.

Nein, in China wird jedes Kommunikationsmittel, auch das TV, zu Propagandazwecken benutzt, das in diesem Fall der Abschreckung dienen soll. Als vorweggenommene verbale Lynchjustiz sozusagen. China blickt auf eine lange Tradition der Todesstrafe zurück, welche allein durch ihr Bestehen seit jeher ein Druckmittel ist. Schon die Verurteilungsprozesse sind teils öffentlich und nicht selten Massenversammlungen, auch wenn der Oberste Gerichtshof 1998 ein entsprechendes Verbot veranlasst hatte. Früher hatte das Land die Täter öffentlich in Fußballstadien hingerichtet oder durch Straßen gefahren – mit dem Fernsehen und der Interview-Sendung erreichte man aber selbstverständlich viel mehr Zuschauer. Das Fernsehen ist dort also ein Medium, mit dem der menschenunwürdige Prozess der Todesstrafe lediglich ein viel größeres Publikum erhält als zuvor. Neu ist an dieser TV-Sendung nicht viel, im Gegenteil befindet sie sich in einer alten Tradition. In China selbst waren die «Interviews vor der Hinrichtung» überhaupt nicht umstritten, auch weil die meisten Bürger die Todesstrafe selbst nicht in Frage stellen.

Bemerkenswert ist dann aber, dass das Land die Sendung nach dem externen öffentlichen Druck abgesetzt hat – wahrscheinlich hätte man sich vor Jahren noch kein bisschen um die internationale Meinung geschert. Ein Optimist erkennt darin vielleicht einen weiteren kleinen Funken fortschreitender Weltöffnung, der in der Volksrepublik China entflammt.

Jan Schlüters Branchenkommentar gibt es jeden Mittwoch nur auf Quotenmeter.de.

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