RTL war der Vorreiter und etablierte das Scripted-Reality-Genre im Nachmittagsprogramm. Nun kommen auch Sat.1 und VOX dazu – nie sahen mehr Menschen erfundene Reality-Geschichten im Fernsehen. Eine Bestandsaufnahme.
Klassisches Realityfernsehen hat in den vergangenen Jahrzehnten einen beispiellosen und weltweiten Siegeszug in der Flimmerkiste vollzogen. Es erreicht mittlerweile völlig selbstverständlich im Abendprogramm gute Quoten neben Fiction-, Show- und echter Doku-Unterhaltung. In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland ein Subgenre der Reality gebildet, dessen Erfolg noch am Anfang stehen könnte.
Es ist das Genre der Scripted Reality, der erfundenen Familiengeschichten, die wie Realityfernsehen aussehen sollen, aber eben nach Drehbuch gefilmt werden. Scripted Reality ist vielleicht die logische Konsequenz aus echtem Reality-TV: Hätte es dieses nicht gegeben, könnte man sich nicht an dessen typischen, etablierten Merkmalen orientieren. Schließlich soll Scripted Reality echt und als Schlüsselloch-Dokumentation wirken. Sie macht aber eines besser: Sie ist unterhaltsamer. Kein Wunder, wenn Drehbuchautoren skurrile Geschichten erfinden können und das Produktionsteam nicht darauf warten muss, dass vor der Kamera irgendetwas Spannendes passiert. Reality – wortwörtlich: die Wirklichkeit – ist langweilig geworden im deutschen Fernsehen.
RTL war quasi der Pionier bei der Etablierung der modernen Scripted Reality: Am Nachmittag erreichen seit einigen Jahren Formate wie «Verdachtsfälle» und «Familien im Brennpunkt» hervorragende Einschaltquoten mit bis zu 30 Prozent Marktanteil in der Zielgruppe. Der beispiellose und sehr schnelle Erfolg war fast aus der Not geboren, nachdem RTL seine Gerichtsshows und Oliver Geissens Talk aufgegeben und bis 2009 mit Nachfolgeprogrammen wenig Quotenglück hatte. Schon die Gerichtssendungen waren quasi Scripted Reality – aber dort zum großen Teil verlagert in den Minikosmos des Gerichtssaals, während moderne Vertreter dieses Genres keine Grenzen mehr kennen. Günter Stampf sagt: „Alles kann gescripted werden - bis auf die Nachrichten.“ Stampf ist Chef der Firma Stampfwerk, die geschriebene Sendungen wie «Die Schulermittler» produziert, und daher einer der Verantwortlichen für diesen TV-Trend.
Ein weiterer großer Vorteil für die Sender ist auch die kostengünstige Herstellung solcher Formate: Durch Drehbuch und vorher fest geplanten Ablauf dauert die eigentliche Produktion kürzer und ist demnach günstiger. Selbst wenn diese Sendungen dann nur mittelmäßige Quoten holen würden, wären sie ein Erfolg – aber da sie bei RTL mit Abstand der Marktführer am Nachmittag sind, kann man sie als wahre Goldgrube bezeichnen. Dies haben seit einiger Zeit auch andere Sender erkannt: Am Vorabend hat sich das RTL II-Format «Berlin – Tag & Nacht» fest beim jungen Publikum etabliert und auch einen Anteil daran, warum Sat.1 und Das Erste zu dieser Uhrzeit auf keinen grünen Zweig kommen. VOX setzt ebenfalls auf solche Sendungen, aber zu früherer Uhrzeit. «Verklag mich doch» und «Unter Beobachtung» etablieren sich derzeit ab 13 Uhr mit teils guten Quoten, demnächst kommt mit «SOKO Familie» ein weiteres Scripted-Reality-Format. Zuletzt setzte RTL II sogar am Spätabend auf dieses Genre: «Liebe im Paradies» wurde nach 22 Uhr ebenfalls zum Quotenerfolg.
Und nicht zuletzt will Sat.1 für seine angestaubten Gerichtsshows einen gute Ersatz finden, der ebenfalls – was sonst? – eine Scripted Reality sein soll. Anstatt von «Richterin Barbara Salesch» wird «Familien-Fälle» erfundene Geschichten zeigen – dann aber abgekoppelt vom Gerichtssaal und von Salesch. Und in der vergangenen Woche testete Sat.1 unter dem Titel «Richter Alexander Hold – Spezial: Geheimnisse» ebenfalls eine Scripted Reality, die mittelfristig das klassische Gerichtsformat ersetzen könnte. Bestanden wurde dieser Test – alle fünf Folgen der Woche holten zweistellige Zielgruppen-Marktanteile, die «Richter Alexander Hold» zuletzt teils nicht mehr hatte einfahren können.
Sollte neben RTL und VOX auch noch Sat.1 mit Scripted Reality am Nachmittag punkten, hätte das Genre zu dieser Uhrzeit an manchen Tagen über 50 Prozent Marktanteil beim werberelevanten Publikum – der nur vorläufige Höhepunkt des immensen Erfolgs dieses Genres, der wohl noch nicht zu Ende sein wird.