Die Gattung des Superheldenfilms kann man kaum noch neu erfinden, zeigte sie sich doch längst in einer immensen Bandbreite: Superhelden können total albern sein (siehe «Batman & Robin»), doch sie können ebenfalls in ernstzunehmenden, psychologische Tiefe zeigenden Thrillern agieren (siehe etwa «The Dark Knight»). Das Ideal des maskierten Rächers wurde auseinander genommen (etwa in «Watchman»), in realistischer Form glorreich neu zusammengesetzt (beispielsweise in «Die Unglaublichen») und zuweilen geschah sogar beides gleichzeitig («Kick-Ass»). Auch mit der Erzählform wurde bereits ausgiebig experimentiert, so dehnte M. Night Shyamalan in «Unbreakable» den typischen ersten Akt eines Superheldenfilms auf volle Spielfilmlänge aus.
Anders gesagt: Nahezu alles, was Filmemacher mit Superhelden tun können, wurde bereits getan, und es obliegt ihnen nur noch, durch Qualität und/oder Superlative kleinere Revolutionen anzustreben. Aber bevor nächste Woche Marvels «The Avengers» beweist, dass man mit mehr Masse auch mehr Klasse erreichen kann, und einige Wochen später Christopher Nolans «The Dark Knight Rises» allen Erwartungen nach noch grimmigere Töne anschlägt als Batmans letzter Kinoeinsatz, startet in den deutschen Lichtspielhäusern eine kleine Superheldenproduktion, die mutig versucht, ihre eigene Nische zu finden: «Chronicle». Regie bei dieser Low-Budget-Produktion führte der Debütant Josh Trank, der gemeinsam mit Max Landis einen Superheldenfilm erschuf, der ausgesprochen nah dran ist, dem bereits aus allen möglichen Winkeln erforschten Genre eine weitere, ungeahnte Facette zu entlocken.
Außerdem wird das sich wiederholende „Found Footage“-Genre mit neuen Ansätzen versehen. Üblicherweise wird die Form vermeintlich echten Filmmaterials gewählt, um durch die vorgetäuschte Realität die Schrecken eines Horrorfilms zu vergrößern. Am erfolgreichsten gelang dies «The Blair Witch Project» und den «Paranormal Activity»-Filmen. In «Chronicle» dagegen beeinflusst die gewählte Darstellungsform auch die Erzählweise und dient dazu, eine tragische sowie übernatürliche Jugendgeschichte mit zeitgemäßen Kniffen besonders persönlich zu erzählen. Deshalb ist «Chronicle» auch überzeugten Gegnern des „Found Footage“-Trends zu empfehlen.
Der Film beginnt damit, dass der Außenseiter Andrew (Dane DeHaan) beschließt, sein unglückliches Leben komplett auf Video festzuhalten, von den Gewaltandrohungen seines Vaters bis hin zum ständigen Mobbing in der Schule. Damit versucht er, eine Barriere zu der ihn verletzenden Außenwelt aufzubauen. Als ihn sein Cousin Matt (Alex Russell) auf eine Party mitnimmt, ändert sich nicht nur der Sinn von Andrews unablässiger Filmerei schlagartig, sondern auch das Leben der beiden Cousins und eines ihrer Mitschüler: Der beliebte und offen auf seine Mitmenschen zugehende Schülersprecherkandidat Steve (Michael B. Jordan), der gemeinsam mit Matt auf einem nahe gelegenen Feld ein mysteriöses Objekt entdeckt hat, bittet Andrew, ihn dorthin zu begleiten und alles zu filmen. Bald darauf finden die drei Jugendlichen heraus, dass sie übernatürliche Fähigkeiten entwickelt haben, was sie näher zusammenschweißt.
Anfangs beschränkt sich ihr Talent darauf, LEGO-Steine schweben zu lassen, doch mit unstillbarer Neugierde und ständigem Training gelingt es ihnen, ihre Fähigkeiten auszubauen. So kommt es, dass die frisch gebackenen, ungestümen Freunde ihre Freizeit damit verbringen, mittels Telekinese ihrem Umfeld ungesehen Streiche zu spielen. Andrew aber findet, dass sie ihre Kraft nicht derart verschwenden sollten, weshalb er sie auch dazu einsetzt, sich gegen seine Umwelt zur Wehr zu setzen. Dies wiederum stürzt Steve und Matt in Besorgnis, da sie befürchten, dass der Einsatz ihrer Kräfte außer Kontrolle geraten könnte ...
Manche der Versatzstücke von «Chronicle» mögen aus anderen Filmen bekannt sein, auch der Gesamthandlungsverlauf sollte für genreversierte Kinogänger halbwegs vorhersehbar sein. Allerdings wurden nie zuvor die Ideen einer Helden-Ursprungsgeschichte, eines Sci-Fi-Thrillers und eines ungeschönten Jugenddramas in dieser Form vereint. Dank findigem Einsatz des Video-Tagebuchformats wird der narrative Überbau schlüssig umgesetzt, und so gelang es Landis und Tank, diese filmischen Gattungen inhaltlich plausibel zusammenzuführen.
Der Vorhersehbarkeit des Hauptplots stehen dabei zahlreiche denkwürdige Sequenzen gegenüber, deren Verlauf sich nicht vorausahnen lässt. Scherzen die Hauptfiguren in einem Moment noch unbeschwert herum, folgen in der nächsten Szene schon rührende Dialoge oder dem Publikum mit ihrer Drastik den Boden unter den Füßen wegziehende Wenden. Sprunghaft wirkt dies dank des ausgefeilten Drehbuchs sowie des großartigen Schauspiels von Dane DeHaan jedoch nie. Gegen Schluss dreht DeHaan leider zu sehr auf, vor dem Schlussakt erzeugen seine verletzliche, komplexe Darstellung sowie das eng an den Figuren bleibende Format des Films aber eine raue Atmosphäre. Das Fundament eines Mobbing-Jugenddramas führt dazu, dass der Protagonist Andrew als eine moralisch komplexe Figur aufgebaut werden kann, wodurch auch der Film selbst zu einer mehrbödigen, tragischen und dennoch unterhaltsamen Geschichte wird.
Im erschütternden, konsequenten aber auch unnötig aufgeblasenen Finale wird dem Zuschauer sehr viel Gutglauben abverlangt, etwas kleiner hätte die Action in diesem Fall dann doch ausfallen dürfen. Die Effektarbeit wiederum ist insgesamt sehr ansehnlich, bloß ausgerechnet in manchen dramaturgisch besonders relevanten Sequenzen wirken die Animationen irreal. Dafür gelingt es «Chronicle» aber, seine Geschichte innerhalb von weniger als 90 Minuten abzuhandeln, ohne gehetzt zu wirken oder die Figurenzeichnung leiden zu lassen. Das gelingt Filmen über werdende Superhelden üblicherweise nicht.