Die Kino-Kritiker

«Les Misérables»: Lang erwartet, unerwartet gut

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Der Film des Monats: Tom Hoopers Kinoadaption des legendären Musicals «Les Misérables» überträgt das beeindruckende Bühnenstück adäquat auf die Kinoleinwand. Wenngleich auch auf eine Art, die so nicht jeder erwartet hätte.

Victor Hugos 1862 beendeter Roman «Les Misérables» (beziehungsweise «Die Elenden») gehört aufgrund seiner intensiven Schilderung des Lebens in der Unterschicht im Frankreich zu Zeiten Napoleons und Louis-Philippe I. längst zu den größten Klassikern der Weltliteratur. Als solcher wurde er bereits mehrmals adaptiert, allein in Frankreich entstanden über ein Dutzend Verfilmungen, doch die berühmteste Neuinterpretation von Hugos Mammutwerk ist das 1980 uraufgeführte gleichnamige Musical. Die Idee, das viel bejubelte Musical fürs Kino zu adaptieren, kursierte wiederum seit Ende der 80er-Jahre in Hollywood, allerdings kam das Projekt erst im März 2011 über das Planungsstadium hinaus.

Ausgerechnet Tom Hooper, der mit dem Oscar prämierte Regisseur des kammerspielartigen Dramas «The King's Speech», vollbrachte diese jahrzehntelang in Angriff genommene, oftmals als unmöglich bezeichnete Aufgabe und versammelte ein imposantes Star-Ensemble, um das überwältigende Bühnenstück für die Leinwand neu zu erzählen. Ganz anders als viele Regisseure von Musicalverfilmungen vor ihm, nimmt Hooper keine schwerwiegenden inhaltlichen Änderungen vor: 1815 wird der versklavte Sträfling Jean Valjean (Hugh Jackman) vom herrischen Polizeiinspektor Javert (Russell Crowe) auf Bewährung entlassen. Als verurteilter Verbrecher ist es Valjean allerdings unmöglich, eine sichere Existenz aufzubauen. Erst, sobald er widerrechtlich seine wahre Identität aufgibt, ist ihm mehr Glück hold und er steigt als Monsieur Madelaine sogar zu einem Fabrikbesitzer sowie zum Bürgermeister der Gemeinde Montreuil auf. In dieser kommt es eines Tages zu einem die Fabrikarbeit lahm legenden Streit zwischen der Näherin Fantine (Anne Hathaway) und ihren Kolleginnen, durch den bekannt wird, dass Fantine ein uneheliches Kind hat. Als Valjean um Schlichtung gebeten wird, überlässt er diese Aufgabe dem Vorarbeiter, der Fantine kurzerhand entlässt.

Unfähig, anderweitig ihre Tochter zu versorgen, sieht sich Fantine zur Prostitution gezwungen. Einer ihrer Freier wird aufgrund Fantines Abweisung handgreiflich, woraufhin sich diese wehrt – doch gegenüber dem durch Inspektor Javert verkörperten Recht hat die gefallene Frau aufgrund ihres schlechteren Stands keine Aussicht auf Gerechtigkeit. Bloß dank des Einschreitens durch Monsieur Madeleine/Valjean wird sie in ein Krankenhaus überwiesen. Nach Fantines Dahinscheiden beschließt Madeleine/Valjean, für ihre Tochter Cosette aufzukommen. Da seine Maskerade allerdings aufgeflogen ist, muss er gemeinsam mit seiner Ziehtochter fliehen. Javert schwört, den Flüchtling aufzutreiben und niederzustrecken – aber als sie sich das nächste Mal über den Weg laufen, bahnen sich um Javert und Valjean herum weitaus größere Dinge an: Die Armen von Paris nehmen die Ungerechtigkeit im Lande nicht weiter hin und planen einen Aufstand. Die revolutionären Studenten und die Bettler der Stadt strotzen vor Tatendrang, und so ist eins gewiss: Nach Ausruf der Revolution wird Blut fließen …

Von wenigen Sätzen abgesehen wird diese Geschichte durchgehend in Gesangsform erzählt. Da in «Les Misérables» Lieder somit ununterbrochen die Funktion klassischer Dialoge übernehmen, verzichtete Tom Hooper auf die zumeist bei Musicaldrehs angewandte Methode, die Songs vorab einsingen und die Schauspieler am Set zur perfektionierten Aufnahme mimen zu lassen. Dadurch erhielt diese Produktion einen raueren Klang, eine Ungeschliffenheit, die poppige Musicals wie «Grease» oder auch «Chicago» nicht aufweisen. Es steht keine charttaugliche, makellose Gesangsleistung im Zentrum, sondern die schauspielerisch prägnante Darbietung dessen, was die Figuren fühlen. Bloß, dass dieser emotionale Ausdruck in melodiöser Form erfolgt. Dies bedeutet: Ein völlig verausgabter, versklavter Jean Valjean trällert in diesem Film nicht wie eine Nachtigall, sondern wird von Hugh Jackman so erschöpft angelegt als handle es sich um ein konventionelles Filmdrama.

Musicalfreunde, deren Kenntnis des Genres über solche Kassenschlager wie «Mamma Mia!» oder diverse Disney-Beispiele hinausreicht, kennen diese Form des schauspielenden Gesangs zwar kaum aus der Kinowelt, jedoch von zahlreichen durchkomponierten Bühnenstücken und sollten deswegen keinerlei Eingewöhnungszeit brauchen. Weniger Musicalerfahrene könnten in den ersten Filmminuten wegen des ungewohnten Gesangsstils zunächst irritiert sein, doch die zurecht seit mehr als 25 Jahren bewährten Lieder aus «Les Misérables» und die gewinnenden Leistungen der Filmdarsteller sollten auch Novizen von dieser Musicalform überzeugen.

Die aufreibendsten Performances geben der mit Broadwayerfahrung gesegnete Hugh Jackman und Anne Hathaway, die zwar nur kurz zu sehen ist, mit ihrer famosen Leistung trotzdem den denkwürdigsten Aspekt des Films darstellt. Jackman und Hathaway versinken geradezu in ihren Rollen und füllen sie mit beispielloser Passion aus. Aber auch das restliche Ensemble, darunter «Mamma Mia!»-Star Amanda Seyfried, überzeugt mit gefühlvollen, facettenreichen Darbietungen. Selbst der von der US-Presse geschundene Russell Crowe überrascht mit einer festen Kommandeursstimme, die ihn sicher durch seine eingängigen Lieder leitet. Bloß in den wenigen sensiblen Momenten Javerts seufzt er einige Zeilen zu dünn vor sich her.

Das wohl am stärksten polarisierende Element an dieser Musicalverfilmung ist indes, wie die internationale Rezeption bereits zeigte, Danny Cohens ungewöhnliche, von Nahaufnahmen dominierte Kameraführung. Während mehrerer Szenen fängt Cohen vor verschwimmendem Hintergrund nahezu ausschließlich das Gesicht des jeweils singenden Darstellers ein, drängt sich in die Distanzzone der leidenden Figuren und bildet ihren seelischen oder körperlichen Schmerz unverblümt ab. Mehrere Kernszenen des ansonsten rasant geschnittenen Films lassen Cohen und Hooper in einem einzigen Take durchlaufen, so etwa Anne Hathaways herzzerreißenden Zusammenbruch während der tragischen Ballade „I Dreamed a Dream“.

Dadurch, dass sie in ihrem Leinwandmusical emotionale Wendepunkte in ausführlichen Nahaufnahmen einfangen, tragen Hooper und Cohen sowohl den Vor- als auch den Nachteilen des Filmmediums Rechnung: Zuschauern des Bühnenstücks bleiben Closeups der Darsteller verwehrt, und durch eben diese intimen Kameraeinstellungen kompensieren die Filmemacher den Verlust der persönlichen Direktheit einer Live-Performance. Mindestens genauso mitreißend wie die ausschweifenden Plansequenzen sind die Szenen, in denen intensiv Gebrauch von abgeschrägten, desorientierenden Kamerawinkeln und besonders raschen Schnitten gemacht wird. Zu diesen hypnotischen Sequenzen zählt etwa Fantines Absturz von einer einfachen Arbeiterin zu einem geschundenen, abgemagerten und beschämten Freudenmädchen. Der kakophonische Gesang in dieser Liedsequenz, die eingängige wie eindringliche Melodie des Songs und die Bildsprache bilden eine prägnante formale und inhaltliche Einheit, durch die eine Sogwirkung entsteht, die Fantines Elend nachfühlen lässt.

Solchen beispielhaften Momenten stehen jedoch Abschnitte gegenüber, in denen Hoppers Beschluss, fast den gesamten Film über Großaufnahmen und nahe Einstellungen zu verwenden und abseits tragender Lieder auf zahlreiche Bildwechsel zu setzen, unnötig befremdlich erscheint. Zunächst erhält man fast das Gefühl, das Cutter-Duo Melanie Ann Oliver & Chris Dickens habe die Aufgabe erhalten, «Les Misérables» mit aller Gewalt auf eine Laufzeit von weniger als 170 Minuten zu schneiden, weshalb sie nahezu jede, eine neue Szenerie einführende Totale strichen und auch jede Atempause auf ein Minimum reduzierten. Zwischenzeitlich wirkt der Film deswegen überaus gehetzt – egal, ob Jean Valjean erschöpft von einem Ort zum anderen wandert oder dem Zuschauer erstmals die facettenreiche Innenstadt Paris' gezeigt wird, nicht eine Aufnahme verweilt lang genug, damit das Publikum das Gezeigte in Ruhe auf sich wirken lassen kann. Die aufwändigen Kostüme und Kulissen können zu keinem Zeitpunkt für sich sprechen, so dass man als kritischer Zuschauer das massive Produktionsdesign nahezu verschenkt glaubt.

Deswegen ist nicht auszuschließen, dass einige Kinogänger, auch Liebhaber des Originalmusicals oder der Buchvorlage, der Klanggewalt und fantastischen Darstellerleistungen zum Trotz leicht enttäuscht das Lichtspielhaus verlassen werden. „Wenn man schon eine aufwändige Hollywood-Verfilmung dieses Musicals in Angriff nimmt, solche Stars versammelte und keine Kompromisse für ein Massenpublikum einging, wieso nutzte man nicht alle Ressourcen und schuf ein bombastisches Musicalepos?“, dürfte der Leitgedanke vieler enttäuschter Kinogänger sein.

Wer denkt, dass «Les Misérables» durch seine Rastlosigkeit und beständigen, förmlich an den Gesichtern der Darsteller haftenden Nahaufnahmen eine einmalige Chance vertan hat, ersehnte offensichtlich einen völlig anderen Film, als ihn sich Regisseur Tom Hooper vornahm. Seine Inszenierung ist zuweilen schwindelerregend, Hooper raubt seinen Zuschauern mehrmals jegliches Gefühl für den Handlungsort und die erzählte Zeit, gen Ende des Films darf es nicht verwundern, wenn man als Betrachter ausgelaugt und erschöpft ist. Was bei einer gewöhnlichen Kinoproduktion gegen die Verantwortlichen spricht, spricht in diesem Fall für eine passionierte Herangehensweise des Regisseurs.

Tom Hooper erlaubt sich in diesem Musical-Monumentalwerk exakt eine prunkvolle, ausdauernde Kamerafahrt voller visueller Pracht, und zwar direkt zu Beginn des Films. Er saust aus dem dreckigen, kalten Meer an einem beschädigten, kolossalen Segelschiff vorbei und zoomt mitten in eine hart schuftende, von Schmerz zerfressene Sklavenkompanie. Hooper beginnt «Les Misérables» bloß mit dem oberflächlichen Prunk, der von einem Historienepos zu erwarten ist, um das Publikum jählings auf Augenhöhe mit der leidenden französischen Unterschicht des frühen 19. Jahrhunderts zu bringen – und es daraufhin nicht mehr von der Perspektive der Protagonisten zu lösen.

«Les Misérables» gestattet dem Betrachter keine Sekunde der Distanznahme, durch die Rastlosigkeit der Erzählweise klammert der Oscar-Preisträger jegliche Elemente aus, die von dem Unglück der handelnden Figuren ablenken könnten. Einzelne Aufnahmen mögen übertrieben nah an den Schauspielern sein, könnten sich mehr an visuelle Konventionen orientieren, ohne die Intention hinter der Gesamtgestaltung dieser Musicaladaption zu untergraben. Trotzdem wohnt der Inszenierung ein gedankenreiches sowie effektstarkes Konzept inne, welches «Les Misérables» zu einer der interessantesten Musicalverfilmungen der Kinogeschichte macht.

Fazit: Tom Hooper schuf vielleicht nicht die «Les Misérables»-Verfilmung, die jedem vorschwebte, aber er schuf eine der Thematik und Stimmung der Vorlage getreue Kinoadaption mit ambitionierter Vision und emphatischen Schauspielleistungen.

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