Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir einer Idee, die im Kern zwar brauchbar, aber in ihrer Ausführung äußerst mangelhaft war.
«Stunde der Entscheidung» wurde am 10. November 1994 bei RTL geboren und versuchte alle damals existierenden Trends des deutschen Privatfernsehens in einem Format zu vereinen. In jeder Ausgabe sollte eine Geschichte erzählt werden, die an der spannendsten Stelle unterbrochen wird, nämlich genau dann, wenn die Hauptfiguren vor einer großen moralischen Entscheidung standen. An diesem Punkt waren dann die Fernsehzuschauer aufgefordert, über den Fortgang der Ereignisse abzustimmen und die schwierige Wahl den Protagonisten abzunehmen. Entsprechend des Mehrheitsvotums wurde schließlich eines der beiden vorbereiteten Enden der Geschichte gezeigt.
Damit bot das Konzept einerseits persönliche Schicksale, wie sie aus den noch jungen täglichen Talkshows bekannt waren und versprach andererseits wie bei «Notruf» authentisch nachgestellte Fälle, die auf echten Begebenheiten basieren würden. Dazu entstanden Einspielfilme, die ästhetisch stark an die Daily Soaps erinnerten und mit interaktiven Elementen kombiniert wurden. Auch wenn die Idee damit wirkte, als sei sie am Reißbrett der RTL-Programmredaktion entstanden, basierte sie auf einer brasilianischen Sendung, die in ihrem Heimatland einen Marktanteil von bis zu 60 Prozent erzielen konnte. Nur durch diesen Erfolg war es überhaupt zu begründen, weswegen sich der damalige RTL-Chef Helmut Thoma als erklärter Gegner von interaktivem Fernsehen dennoch für eine Produktion dieser Art entschied.
Getragen wurde dieses Schauspiel vom damaligen allgegenwärtigen RTL-Gesicht Hans Meiser, der sich durch die Präsentation von «Notruf» und seiner täglichen Talkshow äußerst heimisch in diesem Konzept gefühlt haben musste. Er moderierte das Geschehen in seiner gewohnten Art routiniert herunter, hatte aber nicht viel Spielraum zur Entfaltung, denn im Kern bestand seine Aufgabe darin, die Fernsehzuschauer zum Anrufen zu bewegen. Um die Dauer der Abstimmung zu überbrücken, sprach er zudem mit einigen Mitgliedern des Studiopublikums sowie mit prominenten Gästen wie Jenny Jürgens und Roland Kaiser über deren Einschätzung der gezeigten Konfliktsituation.
Im Vorfeld kommunizierte der Sender bereits mögliche Konstellationen, die in den folgenden Ausgaben behandelt werden könnten. Zu entscheiden wäre es demnach gewesen, ob der Finder eines Koffers voller Geld diesen zurückgeben soll oder, ob ein Alkoholiker seine Verlobte heiraten kann, nachdem er sie mit dem Auto angefahren und eine schwere, bleibende Behinderung bei ihr verursacht hatte. Die Kreativität der Redakteure schien daher bereits im Vorfeld beflügelt worden zu sein.
Für die Premierenausgabe wagte man sich jedoch noch nicht an derartig ausgefallene Problematiken heran, sondern verließ sich stattdessen auf die bewährte Anziehungskraft eines Sex-Themas. Zu beantworten galt es, ob eine junge Angestellte mit ihrem Chef schlafen soll, um den Job ihres Ehemannes, der in der selben Firma arbeitete, retten zu können. Der zugehörige Einspieler war dabei äußerst klischeehaft, unsubtil und mit unfassbar flachen Dialogen umgesetzt worden. (z.B.: „Andrea, ich bin einfach verrückt nach dir und du bist verrückt nach mir, das weiß ich.“) Damit auch wirklich die letzten Zuschauer verstanden, was von der Protagonistin während der Liebesnacht erwartet wurde, erklärte dies der Chef noch einmal überdeutlich: „Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen: Es ist nicht damit getan, dass du einfach zu mir kommst und dich auf den Rücken legst.“
Wenig verwunderlich, dass die Presse für die Auftaktepisode keine positiven Worte fand. Die Journalisten beschrieben das Format als „albern“ und „niveaulos produziert“. Sie bemängelten außerdem den allgegenwärtigen moralischen Zeigefinger sowie die Vorhersagbarkeit, wie sich die Zuschauer entscheiden werden. In der ZEIT hieß es damals sogar: „Es kam aber auch sonst nichts auf – weder Spannung noch Vergnügen, nur verzweifelte Peinlichkeit.“ Angesichts dieses vernichtenden Urteils ist es nur schwer zu glauben, dass laut RTL-Angaben die Sendung bei Probeläufen gleich mehrere Personen zu Tränen gerührt haben soll.
Obwohl sich am ersten Abend über 350.000 Menschen an der Abstimmung beteiligt haben sollen, erreichte die Ausstrahlung nur sehr unzureichende Reichweiten. Zusammen mit dem negativen Medienecho führte die mangelnde Resonanz dazu, dass die Produktion mit sofortiger Wirkung mit der Option einer späteren Wiederaufnahme vorerst unterbrochen wurde. Aus dieser Zwangspause kehrte sie jedoch nie wieder zurück.
«Stunde der Entscheidung» wurde am 10. November 1994 beerdigt und erreichte ein Alter von einer Folge. Die Show hinterließ den Moderator Hans Meiser, der seine Talkshow noch bis zum März 2001 fortführte. Zwischen den Jahren 2000 und 2002 präsentierte er zusätzlich das Primetime-Quiz «Einundzwanzig» . Als im August 2006 das Magazin «Notruf» eingestellt wurde, blieb der ehemaligen Allzweckwaffe nur noch der jährliche Auftritt im Pannenrückblick «Life! Dumm gelaufen». Im Jahr 2010 fiel dann auch dieser weg. Übrigens, die Zuschauer entschieden sich damals gegen den Sex mit dem Vorgesetzten. Im zugehörigen Ende der Geschichte siegte die Angestellte dann über ihren Chef, der für sein unmoralisches Angebot kräftig büßen musste.
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einem wirren «Wer wird Millionär?»-Klon.