„Ich gebe einen Scheiß darauf, was die Kritiker sagen“, tönte Johnny Depp in Berlin auf der Deutschlandpremiere seines aktuellen Kinofilms «Lone Ranger» und trat somit ein weiteres Mal nach. Wenige Tage zuvor mutmaßte der Schauspieler gemeinsam mit seinem Kollegen Armie Hammer und Produzent Jerry Bruckheimer während der europäischen Pressetour zum Film, dass sich die US-Kritiker ihren Western ausgeguckt hätten, um ihn konsequent niederzuschreiben und so ihre Schadenfreude zu befriedigen. „Aber, aber, Johnny, wer wird denn gleich seine ursprüngliche Fangemeinde beleidigen?“, möchte man dem Frauenschwarm zunächst entgegensetzen – schließlich war er schon ein großer Kritikerdarling, lange bevor ihn das Massenpublikum und die Academy of Motion Picture Arts & Sciences in «Fluch der Karibik» entdeckten.
Allerdings ist es Depp nicht zu verübeln, dass er derzeit schlecht auf die schreibende Zunft zu sprechen ist, immerhin ließen gerade die US-amerikanischen Filmjournalisten kaum ein gutes Haar an «Lone Ranger». Dieser Film ist immerhin, ganz konträr zu dem, was diverse US-Kritiker die vergangenen Wochen über getönt haben, ein Passionsprojekt für den mehrfach Oscar-nominierten Superstar. Und eben kein lieblos gedrehtes Projekt der Marke „Ich mach's für's Geld“. Beispiel gefällig? Nachdem «Lone Ranger» jahrelang nicht aus der Planungsphase rauskam, dachte sich Depp selbst den Look für seine Rolle Tonto aus und schickte dann ein entsprechendes Foto, welches an ein Kirby-Sattler-Gemälde angelehnt war, an die Disney-Studios und «Fluch der Karibik»-Regisseur Gore Verbinski. Erst danach kamen die Überlegungen zum Film voran und nahmen Form an. «Lone Ranger» ist also mehr als nur ein Gehaltsscheck für Depp.
Natürlich könnte der Film dennoch vollkommen verunglückt sein. Mag man dem US-Konsens glauben, so besteht daran kein Zweifel. Ich selbst stimme dieser Position nicht zu, was ich in meiner Filmkritik zu ergründen versuchte. Aber bin ich vielleicht nur das einsame Licht am Ende von Depps Tunnel?
Okay, erzeugen wir an dieser Stelle besser keine künstliche Spannung, denn ich würde wohl kaum solch eine rhetorische Frage stellen, wenn ich daraufhin kein klares „Nein!“ folgen ließe. Löst man seinen Blick für einen Moment von all dem Qualm und Rauch, der über dem US-Konsens zum «Lone Ranger» schwebt, zeichnet sich ein neues Bild. Philipp Stadelmaier von der Süddeutschen Zeitung betrachtet den Film als selbstreferenzielles Werk, das sich darüber im Klaren ist, dass heutiges Kino nur noch Künstlichkeit erschaffen kann, statt die frühere, naive Faszination anderer Welten zu erwecken. Stadelmaier referiert auch über die Übermacht der Disney-Maschinerie und kommt zu einem überraschenden Schluss: „[Regisseur] Verbinski unterwirft sich nicht einfach der bestialischen Studiomaschine Disneys. Er domptiert sie wie die Eisenbahn, bis auf den letzten Zentimeter: Er stoppt sie, baut sie auseinander, setzt sie neu zusammen.“ Das Fazit lautet schlussendlich: «Lone Ranger» weiß von seiner Künstlichkeit und kann das Genre dennoch, auch durch den Gebrauch von „Zitaten, die man aufgrund ihrer Melancholie hier kaum erwartet hätte“, reanimieren.
Stadelmaier steht nicht allein auf weiter Flur, wenn er «Lone Ranger» Tiefgang attestiert, den man in einem Big-Budget-Sommerspektakel kaum erwartet hätte. Die werten Kollegen von Moviejones loben ebenfalls den überraschend „große[n] Part an Ernst, Tragik und auch deutlicher Kritik an der Eroberermentalität“, den der Film umfasst. Ebenso hat man bei Gamona Freude an der Vermischung von „klassische[n] Westernmotive[n] mit einem bombastischen Actionfeuerwerk, wilden Verfolgungsjagden, durchdachten Wendungen, Komik, Drama und einer Prise Romantik.“ Birgit Roschy vom epd geht sogar so weit, «Lone Ranger» trotz einiger Abstriche stilistisch „weniger zu Disney als zur Kategorie bizarrer Neowestern wie Jim Jarmuschs «Dead Man»“ zu zählen.
Wer sich erst aufmacht, in die deutschsprachige Steppe des Internets zu reiten, wird für den «Lone Ranger» so viele Quellen frischen Lobes ausmachen, dass plötzlich eher die gelegentliche Zustimmung mit dem US-Konsens aus dem Gesamteindruck heraussticht. Wie etwa die von Spiegel Online, wobei selbst diese die Ambitionen des Films erkennt, auch wenn sie diese als völlig gescheitert erklärt.
Dennoch stellt sich allmählich die Frage: Was war bloß los in den USA? Das von Depp, Hammer und Bruckheimer gezeichnete Bild der Kritiker-Superschurken, die sich heimlich und mit manischem Lachen «Lone Ranger» als Opfer rauspicken, dürfte kaum zutreffen. Filmjournalisten sind so mitteilungsfreudig, würde solch eine Superliga der hinterhältigen Filmkritiker existieren, hätte schon längst jedes zweite Mitglied auf Twitter Fotos vom letzten Geheimtreffen gepostet.
Es liegt nahe, dass die US-Kritikerszene, die viel mehr als die hiesige auch von der Berichterstattung über Produktionsprobleme lebt, nach Disneys medienwirksamem Produktionsstopp des Films (kurz vor dem ursprünglich geplanten Drehbeginn) jeglicher Chance beraubt wurde, unvoreingenommen zu urteilen. Andererseits lässt diese These die US-Kollegen noch immer in einem schlechten Licht dastehen, und dies womöglich völlig ungerechtfertigt. Auffällig ist, dass der US-Konsens allein die Laufzeit des Films und seine zynischen sowie kritischen Zwischentöne ins Visier nimmt. Und dies nur kurz nachdem «Man of Steel» bei US-Kritikern wegen seiner raueren Stimmung eher durchwachsen aufgenommen wurde, während er anderswo besser ankam oder wenigstens aufgrund anderer Mängel kritisiert wurde. Ist Amerika einige Jahre nach dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise der Kritik am reinen Optimismus satt?
Es ließe sich ewig mutmaßen. Schlussendlich ist es vergeudete Zeit. Man könnte stattdessen Depp erklären, dass es „die Kritiker“ nicht als Kollektiv gibt. Apropos: Was macht eigentlich Depps Pressebetreuung, wenn sie ihn in einem Land, wo «Lone Ranger» besser aufgenommen wird, noch immer in diesem Irrglauben böser Kritikerinnungen lässt? Und wieso hat «Lone Ranger» trotz besagter, besserer Grundstimmung in Deutschland nicht viel bessere Zahlen an seinem Startwochenende geschrieben?
Kein Wunder, dass Tonto in «Lone Ranger» irgendwann nur noch davonläuft. Dieser Indianer hatte viel mehr zu verdauen als bloßes Kritikergemaule und dies lange genug einfach hingenommen. Unsereins flüchtet schon bei viel weniger.