Die Kritiker

«Ein Tick anders»

von

Am Donnerstagabend zeigt Das Erste den deutschen Kinofilm aus dem Jahr 2011 um eine 17-Jährige mit Tourette-Syndrom. Julian Miller empfielt, einzuschalten.

Cast und Crew

Vor der Kamera:
Jasna Fritzi Bauer («Zeit der Helden») als Eva Strumpf
Waldemar Kobus («Die LottoKönige») als David Strumpf
Victoria Trauttmansdorff («Einsatz in Hamburg») als Mutter Strumpf
Stefan Kurt («Dreileben») als Onkel Bernie
Renate Delfs («Adelheid und ihre Mörder») als Oma Strumpf
Falk Rockstroh («KDD - Kriminaldauerdienst») als Herr Kühne
Hinter der Kamera:
Produktion: Arte G.E.I.E., NDR, Wüste Film
Drehbuch und Regie: Andi Rogenhagen
Kamera: Ralf M. Mendle
Produzent: Björn Vosgerau
„Heil Hitler, du alte Nutte!“ „Sonderschulpommesbirne!“ „Türkensau!“ Doch, doch, Sie haben schon richtig gelesen. Wir sind tatsächlich im Ersten und nicht bei RTL am Nachmittag, obwohl sich die Hauptfigur quer durch den Duden flucht. „Sie dürfen ruhig lachen, es sind nur Ticks,“ sagt die 17-jährige Eva dann immer, wenn sich Fremde von ihrem Tourette-Syndrom erst mal überfordert fühlen. Ihre eigene gutbürgerliche Familie kann ohnehin nichts mehr schocken, von der „geilen Schnitte“ bis zum „Arschlicht“.

Die Schule hat sie aber schon seit längerem geschmissen. „Zu viele Idioten!“ Ihr behüteter Familienkreis, bestehend aus ihrem liebevollen, aber manchmal etwas begriffsstutzigen Vater, ihrer kaufsüchtigen Mutter, die die Hoffnung auf eine Heilung des Tourettes ihrer Tochter noch nicht aufgegeben hat, dem erfolglosen Musiker-Onkel und der exzentrischen Oma, ist ein wunderbarer Rückzugsort für sie geworden, ein Hort der Geborgenheit.

Bis ihr Vater seinen Job als Autoverkäufer verliert. Zwar findet er schnell wieder Arbeit – doch die neue Stelle ist in Berlin. Ein Umzug in eine Großstadt ist für Eva keine Option. Ständig neue Leute, denen sie immer wieder alles von vorne erklären muss, dazu hat sie weder Lust noch Kraft.

Was der deutsche Film nur äußerst selten schafft, ist Andi Rogenhagens «Ein Tick anders» hervorragend gelungen: die mühelose, tonal großartig getroffene Verflechtung zwischen dem Leichtfüßigen und dem Relevanten.

Eva ist keine Opferfigur, die mit ihrer Krankheit hadert und die von ihrem Umfeld mit eimerweise Mitleid übergossen wird. Ihre Geschichte ist kein herablassendes Gefasel davon, wie toll sie ihr Leben trotz ihrer Behinderung meistert. Nein, Evas Handicap ist schlicht eine von vielen Eigenschaften, aus der sich feinfühlig geschriebenes filmisches Potential ergibt.

Das schließt komödiantisches Potential ausdrücklich mit ein. Was aber nicht heißt, dass Evas Ticks zur Gag-Maschine degradiert werden. Rogenhagen findet noch zahlreiche andere, herrlich skurrile Leitmotive. Evas Psychologin, die ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit sagt, mit was sie sich noch alles konfrontieren soll, und sonderbar gekleidete Pilzsammler, die ständig „grausam verstümmelte Leichen“ finden, sind nur zwei der amüsantesten.

Zugleich gelingt es «Ein Tick anders», auch dahin zu gehen, wo es weh tut, dahin wo Eva aus Ignoranz abgelehnt wird, bevor sie sich erklären kann oder wo ihre Erklärungen aufgrund der mangelnden intellektuellen wie sozialen Kompetenz ihres Gegenübers nicht verstanden werden können. Der Film findet auch an diesen Stellen zu angemessenen, nicht zu schweren, aber doch nachdenklichen Tönen, zeigt neutral oder mit ironischer Brechung Situationen, in denen weniger fähige Autoren und Regisseure schon lange zum erhobenen Zeigefinger hätten greifen müssen, um Wirkung zu erzielen. Dass im Handlungsverlauf auch mal größere Plot-Holes auftauchen, die die Grenzen des Plausiblen zu weit auslegen, fällt dabei allenfalls marginal ins Gewicht. Viel zu schnell hat man viel zu viel Spaß an den Figuren gefunden.

Und an diesem Schauspielerensemble der Extraklasse, das seine Figuren durch die Bank mit großem Einfühlungsvermögen und einem herrlichen Sinn für Komik verkörpert. Es ist gerade die Jüngste, Jasna Fritzi Bauer, die seitdem schon in «Zeit der Helden» an einer tollen Serienproduktion mitgewirkt hat, in der Hauptrolle, die diesem Film das gewisse Etwas verleiht. Es ist ein Fest, ihr dabei zuzusehen.

Das Erste zeigt die Kinoproduktion aus dem Jahr 2011 am Donnerstag, den 3. Juli um 22.45 Uhr.

Kurz-URL: qmde.de/71581
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