Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines in mehrfacher Sicht schwarzen Tags für Deutschland.
"Das Amok-Spezial" entstand am 26. April 2002 und damit an jenem Tag, an dem der damals 19jährige Ex-Schüler Robert Steinhäuser das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt stürmte und innerhalb weniger Minuten dreizehn Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss. Viele der Morde fanden dabei vor den Augen seiner ehemaligen Mitschüler statt. Nach den Hinrichtungen dauerte es nicht lang, bis die Presse- und Medienvertreter am Tatort eintrafen und begannen, über die Tat in aller Ausführlichkeit zu berichten. Ab den Mittagsstunden reihte sich dann eine Sondersendung an die andere und es folgte eine Live-Schaltung auf die nächste. Schnell wurden von den Redaktionen ergänzend Beiträge von ähnlichen Ereignissen aus dem Archiv gekramt, Psychologen zum Geisteszustand des Täters befragt und allerhand Spekulationen über dessen Motive formuliert, während immer wieder die selben Bilder von Absperrbändern, Polizisten in Kampfuniformen und kreisenden Sirenen über die Schirme liefen. Nach vergleichbaren Ereignissen in den USA (u.a. an der Columbine-Highschool), den Erfahrungen von Gladbeck und nur ein halbes Jahr nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center glaubten viele Journalisten schließlich zu wissen, wie man über solche Vorfälle zu informieren hat und dass der Konkurrenzkampf um die spektakulärsten Aufnahmen groß ist. In diesem Verständnis gehören zu einer guten, sprich emotionalen, Berichterstattung ebenso Interviews mit Augenzeugen und Opfern, weswegen sich zahlreiche noch unter Schock stehende Überlebende, Angehörige und Einsatzkräfte den immer gleichen Fragen der aufdringlichen Reportermeute stellen mussten. Eine Meute, die längst ohne Rücksicht auf die Dramatik der Ereignisse oder die Gefühle der Betroffenen in einen wahren Automatismus, wenn nicht gar einen Blutrausch verfallen war.
Während sich die meisten der beschriebenen Szenen im Rahmen von Nachrichtensendungen oder deren Sonderausgaben zutrugen und sich immerhin noch hinter dem Vorwand der Informationspflicht verstecken konnten, überschritt das ZDF am späten Abend endgültig jede Grenze von Ethik und Moral. Der öffentlich-rechtliche Kanal schickte nämlich ausgerechnet seinen Moderator Johannes B. Kerner nach Erfurt, um von dort eine Live-Folge seiner täglichen Talkshow produzieren zu lassen. Ein Format, in dem er eigentlich meist harmlose Plauderein mit Prominenten oder Gesichtern des Boulevards über deren aktuelle Projekte führte, also keineswegs der Rahmen um eine solche Katastrophe aufarbeiten zu können. Dazu kam, dass Kerner von vielen Medienbeobachtern bereits zu jener Zeit als unseriös eingeschätzt wurde, was nicht zuletzt an dem nur wenige Monate zuvor in seinem Studio aufgeführten Schmierentheater um Verona Feldbuschs werbeträchtige Tränen lag. Ausgerechnet er sollte nun mit Verantwortlichen und Betroffenen der nur wenige Stunden alten Tat sprechen.
Unter einem Party-Zelt begrüßte Kerner um 22.15 Uhr zunächst den damaligen Ministerpräsident Bernhard Vogel, von dem er am späten Freitagabend wissen wollte, ob der Schulbetrieb am kommenden Montag regulär weitergehen werde. Es folgten weitere Befragungen von Augenzeugen und Experten, in denen er allerdings nur die gleichen Fragen wiederholte, die bereits den ganzen Nachmittag allerorts gestellt wurden. Den Höhepunkt erreichte das makabre Schauspiel als der Moderator einen 11jährigen Jungen, der kurz vorher der Leiche einer Lehrerin ausgesetzt gewesen sein soll, vor die laufenden Kameras zerrte und ihn ausfragte, was er mitbekommen hätte bzw. wie er sich fühlen würde. Dabei entstand auch folgende (fast schon legendäre) Frage: „Nun bist Du elf Jahre alt, und wir wollen von einem Elfjährigen nicht verlangen, dass man sich sozusagen große Gedanken in einem großen Zusammenhang macht, aber wenn Du sagst, Du hast dir Gedanken gemacht, welche waren das?"
Nach rund 40 Minuten war das schaurige Debakel, das von Siegfried Stadler in der FAZ treffend als „fruchtlos-furchtbar" bezeichnet wurde, endlich vorbei und Kerner verabschiedete sich von der Katastrophen-Kulisse mit dem Hinweis auf seine nächste Episode am kommenden Dienstag, die wieder „freundlichere Gespräche" beinhalten werde. Auch hier fand Siegfried Stadler die richtigen Worte, indem er schrieb: „Eine unangemessenere Überleitung haben wir im Fernsehen so noch nicht gehört."
Der Vorfall sollte nicht folgenlos bleiben, denn in den nächsten Tagen äußerten sich viele Zuschauer und Pressevertreter sehr negativ über Kerners geschmacklosen Ausflug nach Erfurt und insbesondere das Interview mit dem traumatisierten Jungen. Das ZDF stellte sich in der Auseinandersetzung vor seinen Mitarbeiter, indem es betonte, dass die Mutter während des Auftritts daneben gestanden hätte und das Programm „journalistisch, einfühlsam und angemessen" gewesen wäre. Die Kontroverse gipfelte schließlich darin, dass der Entertainer Harald Schmidt und sein Redaktionsleiter Manuel Andrack ihren Besuch an der Verleihung der „Goldenen Feder" deswegen absagten, weil die Veranstaltung von Johannes B. Kerner präsentiert wurde. In ihrer offiziellen Begründung hieß es dazu: „Angesichts der jüngsten medialen Außenwirkungen von Herrn Kerner können wir uns unter keinen Umständen vorstellen, einen Preis in seiner Anwesenheit entgegenzunehmen." Ob Schmidts Empörung wirklich ernst gemeint war oder er diese Affäre nur nutzte, um seinen direkten Konkurrenten gezielt schaden zu können, sei an dieser Stelle unerheblich. Wichtig ist nur, dass die Absage dafür sorgte, dass die Kritik an Kerner noch einmal angefeuert wurde. Am Ende erhielt der ZDF-Talker für das Gespräch mit dem Jungen vom Augustus Hofmann Verlag sogar den „Preis der beleidigten Zuschauer" verliehen.
Die Diskussionen um „Das Amok-Spezial" bewirkte trotz aller medialer Aufmerksamkeit kaum Änderungen in der Haltung der Reporter. Nur wenige Jahre später, als beim Massaker von Winnenden erneut ein Einzeltäter mehrere Menschen erschoss, waren nahezu identische Berichte zu sehen und wurden wieder Kinder direkt nach der Tat von Journalisten befragt. Um Johannes B. Kerner und seine Show wurde es in den nachfolgenden Jahren ebenfalls nicht ruhig. Insbesondere mit dem Rauswurf der Autorin Eva Herrmann stand die Sendung im Jahr 2008 wiederholt in der öffentlichen Debatte und war ein weiteres Mal für den „Preis der beleidigten Zuschauer" nominiert. Kerner verlor die Abstimmung jedoch gegen Oliver Pocher, der ihn für seinen Auftritt bei der Siegesfeier der Deutschen Fußballnationalmannschaft nach der EM 2008 in Berlin erhielt. Dort hatte sich der Komiker mit dem Lied „So gehen die Spanier" und den zugehörigen Gesten über das gegnerische Team lustig gemacht. Irgendwoher kommt einem auch dieser Sachverhalt bekannt vor...
In der nächsten Woche erscheint die 300. und vorerst letzte reguläre Ausgabe des Fernsehfriedhofs und widmet sich dann dem vielleicht schlechtesten TV-Movie aller Zeiten.