Liebe Fernsehgemeinde, diesmal blickt der Fernsehfriedhof anlässlich seiner 300. Ausgabe ausnahmsweise anstatt auf eine Serie oder Showreihe auf einen besonders denkwürdigen Fernsehfilm zurück.
«Die Bettwurst» wurde am 02. Februar 1971 im ZDF uraufgeführt und entstand zu einer Zeit, als der Filmemacher Holger Radtke unter seinem Pseudonym Rosa von Praunheim im Feuilleton und in Kunstkreisen für Aufmerksamkeit sorgte. So erhielten bereits seine frühen Werke «Rosa Arbeiter auf Goldener Straße» und «Schwestern der Revolution» renommierte Auszeichnungen. Schnell folgten darauf erste Anfragen von damaligen Fernsehanstalten für sie tätig zu werden, unter denen sich der später viel beachtete WDR-Beitrag «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» befand. In diesem zeigte der bekennende Homosexuelle wie Schwule zu Beginn der 70er Jahre in Deutschland ihre Sexualität nur im Verborgenen ausleben konnten.
Zwar verfügte das Ergebnis über eine ernste Botschaft, wirkte zuweilen aber eher unbeholfen und verwirrend, was nicht zuletzt daran lag, dass die Darsteller allesamt Laien waren. Ferner wurden die Szenen aus Kostengründen ohne Ton aufgenommen und mussten nachträglich synchronisiert werden. Dies wirkte vor allem bei der minutenlangen Schlussdiskussion merkwürdig, in der überhaupt nicht auf Lippensynchronität geachtet wurde. Aus heutiger Sicht würde man die Arbeit daher eher als Experimentalfilm bezeichnen, die allerdings dennoch einen großen Einfluss auf die homosexuelle Community haben sollte. Seinen ersten Langfilm, den Rosa von Praunheim fast zeitgleich für die ZDF-Reihe «Das kleine Fernsehspiel» ablieferte, knüpfte ästhetisch nahtlos daran an.
Inhaltlich wird in «Die Bettwurst» die romantische Geschichte von Luzi und Dietmar erzählt - einem Paar, das sich zu Beginn der Handlung trifft und versucht, sich gegen alle Widerstände ein gemeinsames Leben aufzubauen. Bevor sich die beiden im dramatischen Finale der dunklen Vergangenheit von Dietmar stellen und ihre gemeinsame Liebe einer entscheidenden Bewährungsprobe unterziehen müssen, durchlaufen sie zunächst die typischen Stationen einer bürgerlichen Beziehung. Sie begehen gemeinsame Tanznachmittage, absolvieren anstrengende Einsätze im gepflegten Schrebergarten oder feiern ihr erstes gemeinsames Weihnachten. Sie schauen zusammen alte Fotos an, überraschen sich gegenseitig mit kleinen Aufmerksamkeiten und haben die gemeinsame Wohnung sauber zu halten. Hierin lag dann auch die Intention des Films, der die konservativen, festgefahrenen Vorstellungen oder Rituale einer spießigen Gesellschaft versuchte zu reinszenieren und dadurch ad absurdum zu führen.
Dabei wollte der Regisseur so authentisch wie möglich bleiben und griff deswegen erneut auf Laiendarsteller zurück, denen er zudem kein ausbuchstabiertes Drehbuch zur Verfügung stellte, sondern sie sämtliche Dialoge improvisieren ließ. Darüber hinaus flossen ihre echten Biografien in die Story ein und die Figuren erhielten ihre jeweiligen realen Namen. So erzählte die weibliche Hauptprotagonistin Luzi Kryn, die zugleich von Praunheims Tante war, im Laufe der Geschehnisse davon, wie sie in großer Armut in Polen aufwuchs und mit ihrer alten Mutter nach Kiel übersiedeln konnte. Bei den Bildern, auf denen ihre verstorbene Mutter zu sehen sind, handelt es sich konsequenterweise um reale Erinnerungsfotos. Ähnlich verhält es sich bei ihrem Spielpartner Dietmar Kracht, der ohne Familie und ohne das Gefühl ein wirkliches Zuhause zu haben, aufwuchs. Bald geriet er in Berlin, Frankfurt und Mannheim/Ludwigshafen auf die (sogenannte) schiefe Bahn und bestritt seinen Lebensunterhalt unter anderem als Stricherjunge. Er hatte früher – wie er es selbst ausdrückt – mit „schweren Jungs“ und „leichten Mädchen“ zu tun. Durch den vorab nur vage festgelegten Plot brachten die beiden neben ihren Lebensläufen auch ihre jeweiligen Vorstellungen einer guten Partnerschaft mit in das Produkt ein und bemühten sich, diese in den Zwiegesprächen über ihre gemeinsame Beziehung zum Ausdruck zu bringen.
Aus all diesen Gründen schrieb der SPIEGEL dem Endergebnis damals die „Qualitäten eines seriösen, wohldurchdachten Soziogramms“ zu, während es in der FAZ hieß: „Eine in Deutschland überaus seltene Mischung aus künstlerischem Ideenreichtum, sozialkritischem Bewußtsein – und Humor.“ Insbesondere in jener untrennbaren Mischung aus Fiktion und Realität sah der Autor Andreas Thomas ebenfalls die Stärken des „authentischen Films“. Für ihn „verschmelzen vor der Kamera ihre Erfahrungen, ihre Sehnsüchte, ihre unreflektierten Werte und Normen mit fiktiven Vorbildern und Liebesgeschichten-Klischees. Schliesslich wird aus beidem ein Film: Aus dem Kitschroman vom Glück und dem realen Leben in der BRD Anfang der 70er.“
Wenn man nun all diese Worte liest, muss «Die Bettwurst» eigentlich ein beeindruckendes Meisterstück sowie ein wahrer Meilenstein der deutschen Kino- und Fernsehgeschichte sein. Nun, auf dem Papier mag dies denkbar sein und sicherlich lassen sich all die erwähnten Aspekte darin wiedererkennen... wenn der Film nicht so gemacht wäre, wie er gemacht ist. Wenn er nicht so unfassbar viele handwerkliche Schwächen und befremdende Stellen enthalten würde. Das beginnt schon damit, dass Dietmar unverkennbar schwul ist und entsprechend übertrieben gestikuliert und redet. Er entspricht sosehr dem Klischee eines tuntigen Homosexuellen, dass man ihm in keiner Sekunde abnimmt, er würde sich tatsächlich in eine Frau verlieben. Dazu kommt, dass seine Schauspielversuche aufgrund seiner durchaus anerkennenswerten Leidenschaft, von einem stetigen Over-Acting geprägt sind, dass selbst seine dramatischen Momente urkomisch wirken.
Die Skurrilität des Films setzt sich in solchen Situationen fort, in denen Luzi beispielsweise schier endlos und mit voller Kraft ihren Schaukelstuhl malträtiert, kurz nachdem sie einige geschmacklose Deko-Elemente ihrer Wohnung stolz in die Kamera gezeigt hat. Oder wenn Dietmar minutenlang beim Duschen gezeigt wird und er völlig ungelenk vortäuscht, dass das Wasser mal zu heiß und mal zu kalt ist. An anderer Stelle wird Luzi neben einem kümmerlichen Weihnachtsbaum drapiert, um mit einem Glöckchen das Fest einzuläuten, wobei ihr deutlich sichtbar die Glocke aus der Hand rutscht. Und schließlich zitiert Dietmar beim Öffnen einer Schublade mit voller Inbrunst den Dolch-Monolog aus „MacBeth“, bevor ihm die komplette Schublade aus den Angeln fällt. Man könnte diese Liste noch um viele andere Beispiele erweitern...
Sehr merkwürdig ist es außerdem, dass Luzi über die gesamte Laufzeit unentwegt in die Kamera schaut, um sich zu vergewissern, dass sie gerade alles richtig macht. Wenn es sehr ruhig ist und man genau darauf achtet, kann man manchmal sogar die Anweisungen hören, die ihr der Regisseur während der Aufnahmen zurief. Sichtlich sind die beiden Akteure mit dem Improvisieren zu jeder Zeit überfordert, weswegen sich ihre Dialoge entweder endlos im Kreis drehen oder ohne Ziel im Nichts verlaufen. So tauscht sich das Paar beim Tanztee nachdem ihnen der Gesprächsstoff schnell ausgegangen ist, über die schönen Lüftungen des Lokals aus und erfreut sich an der frischen Luft, die dadurch einströmen kann. Den Höhepunkt erreichen sie in dem Augenblick, als sich beide gegenseitig ihre Liebe gestehen und in einer Zeitspanne von zwei Minuten sich tatsächlich über zwanzig Mal die Worte „Ich liebe Dich“ sagen. Dies schließt die wohl schönste Liebeserklärung aller Zeiten ein, wenn Dietmar sagt: „Luzi, ich liebe Dich, ich liebe Dein Alles...Dein Gesicht, Dein Körper...Dein Busen, Dein Alles! [...] Ich brauche Dich jeden Sekunden, jeden Sekunden, wie der Hauch des Lebens, wie die Luft, wo ich atme…”
Sicherlich lassen sich all diese Ausfälle damit begründen, dass der Film unverfälscht und wahrhaftig wirken sollte. Man kann dies ebenso für eine Ausrede halten, durch die sich die Beteiligten damals keine Mühe geben und Szenen nicht noch einmal wiederholen mussten. So ist es wohl kein Wunder, dass der 80minütige TV-Movie in nur zehn Tagen abgedreht werden konnte. Welche Position man auch immer einnehmen mag, es bleibt unbestreitbar, dass das Resultat gerade durch diese andauernde Bizarrheit höchst unterhaltsam ist und Textzeilen enthält, die sich kein Autor dieser Welt ausdenken kann. Zeilen wie die philosophische Weisheit: „Das Leben ist wie ein Karussell... man darf nie aufgeben.“
Am Ende ist der Film sicher einer der witzigsten Streifen, der jemals durch eine Kamera gelaufen ist – wobei nie ganz klar wird, ob die Komik beabsichtigt ist oder unfreiwillig entsteht. Man pendelt beim Ansehen ständig zwischen Schock und Lachen, zwischen Verstörung und Amüsiertheit oder zwischen Entsetzen und Freude. Bis zum Schluss bleibt es fraglich, ob man großes Kino oder riesigen Mist geboten bekommt. Ob es blanke Satire oder enormer Trash ist. In sämtlichen oben genannten lobenden Kritiken finden sich darum auch Formulierungen, die das Werk als „unaussprechlich-peinlich“, „peinlich-witzig“, „abgedreht“ oder „grotesk-unterhaltsam“ beschreiben. Sein ganzes Potential entfaltet es beim wiederholten Anschauen, wenn sich das (wenn überhaupt vorhandene) Muster langsam erahnen lässt, aber gleichzeitig die Faszination für die schrägen Dialoge wächst. Nicht umsonst haben sich längst große Fankreise gebildet, die es regelmäßig gemeinsam ansehen und dabei alle Zitate mitsprechen können.
«Die Bettwurst» hinterließ den Regisseur und Autor Rosa von Praunheim, der nur zwei Jahre später mit den selben Hauptdarstellern unter dem Titel «Die Berliner Bettwurst» eine Fortsetzung drehte, die zwar ihre komischen Abschnitte hatte, doch nie das Niveau (egal in welche Richtung) des Vorgängers erlangen konnte. Danach realisierte von Praunheim über 50 weitere Projekte, vor allem im Dokumentarbereich, und wurde für diese unter anderem zweimal mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Seine größte Aufmerksamkeit erhielt er hingegen abseits seines cineastischen Schaffens, als er im Jahr 1991 im Rahmen der Talkshow «Explosiv – Der heiße Stuhl» die Moderatoren Alfred Biolek und Hape Kerkeling ohne deren Erlaubnis öffentlich als homosexuell outete. Mit Luzi Kryn drehte er noch eine Reihe weiterer Filme. Zuletzt war sie im Jahr 1999 in seinem Shortmovie «Can I Be Your Bratwurst, Please?» zu sehen, bevor sie kurz darauf ihrem jahrelangen Krebsleiden erlag. Dietmar Kracht verstarb schon zwei Jahre nach der Fortsetzung von «Die Bettwurst» als er im Berliner Grunewaldsee ertrank. Übrigens, bei der titelgebenden “Bettwurst” handelt es sich um eine Nackenrolle, die von Praunheim für das ultimative Spießer-Objekt hielt. Im Film bekommt Dietmar eine solche von Luzi zu Weinachten geschenkt und kommentiert diese mit den Worten: “So eine Bettwurst hab’ ich mir schon immer gewünscht. Endlich kann ich meinen Nacken auflehnen.
Mögen der Film und seine Darsteller in Frieden ruhen.
Nach sechs Jahren verabschiedet sich der Fernsehfriedhof mit dieser Ausgabe in eine kreative Pause. Voraussichtlich im Januar kehrt er mit neuen Erinnerungen zurück. Um die Wartezeit bis dahin zu überbrücken, wird es in den kommenden Wochen ganz besondere Erinnerungsstücke geben.