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Das neue Fernsehen: Drei Entwicklungen der Digitalisierung

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Mit Netflix gibt es einen weiteren Player, der Zuschauer vom linearen TV weglockt. TV-Bosse wie Anke Schäferkordt müssen neue Wege finden, diese Zuschauer auch online zu behalten. Über drei Herausforderungen der Digitalisierung.

Es wird immer schwerer, einen wie auch immer gearteten Mainstream zu generieren, also sehr hohe Reichweiten zu generieren.
Anke Schäferkordt, CEO RTL Group
Die Geschichte des Mediums Fernsehen kann man in vielen Facetten und aus vielen Blickwinkeln erzählen. Zum Beispiel mit der Emanzipation des Zuschauers: In den frühen Jahrzehnten war er allenfalls Kandidat bei großen Fernsehshows, und dort oft nur Projektionsfläche für die Witze solcher Altmeister wie Peter Frankenfeld oder Hans-Joachim Kulenkampff. Später kam das öffentlich-rechtliche Realityfernsehen («Die Fussbroichs») dazu, der Zuschauer wurde zum Star – und zum Protagonisten des Programms. Dieser Wandel verstärkte sich mit dem Privatfernsehen. Es sorgte letztlich auch dafür, dass der Zuschauer selbst daran mitwirken konnte, zum Star zu werden: in Castingshows. Heute gibt es mehr Reality-Fernsehen als je zuvor, und im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Grenzen zwischen Produzent (Sender) und Rezipient (Zuschauer) immer mehr aufgeweicht.

Insofern ist die Entwicklung konsequent, dass das Internet diese Grenzen noch stärker verwischt – so stark, dass das klassisches Fernsehen nicht mehr mithalten kann: Bei YouTube filmen sich Millionen Menschen selbst und tun das, was ihnen und ihrer Community Spaß macht. Sie spielen Videospiele, kritisieren Filme, geben Schminktipps, drehen Parodien oder gehen auf Reisen. Sie binden ihre Zuschauer ein, die wiederum selbst jederzeit die Möglichkeit haben, zum Protagonist zu werden – mit ihrem eigenen Channel. „Die neuen potentiellen Stars entdecken sich selbst – auf Wegen, die sich den Verlagen und den Journalisten entziehen“, hat Journalist Roland Tichy kürzlich geschrieben. Dass sich die Stars selbst entdecken, ist ein weiterer Schritt der Emanzipation des Zuschauers vom Fernsehen. Ein nachfolgender – noch wichtigerer – ist, dass sie sich selbst produzieren: über Videoportale und ihre eigene (Handy-)Kamera statt über TV-Kanäle und Bohlens, die die künftigen Stars bestimmen. Stattdessen sind es die YouTube-Nutzer selbst, die mit Upvotes und Links über den Erfolg eines Kanals entscheiden. Das Problem der Fernsehsender ist offensichtlich: Sie als Produzenten sind in dieser Gleichung überflüssig geworden.

Das Beispiel YouTube steht für eine digitale Konkurrenz, die immer vielfältiger wird. Mit einem ganz anderen Unterhaltungsangebot mischt Netflix seit dieser Woche den deutschen Markt auf. Hier bleibt der Zuschauer als passiver Konsument zwar Zuschauer, kann aber das sehen, was er will, wann er will – und emanzipiert sich insofern, als er nicht mehr auf das lineare Programm der TV-Sender angewiesen ist. Mit seinem Nutzungsverhalten ist er indirekt dennoch Produzent: Video-on-Demand-Dienste wie Netflix werten detailgetreu die Vorlieben ihrer Kunden aus und produzieren dann Serien nach deren Geschmack. «House of Cards» ist das beste Beispiel dafür, dass dies funktioniert. Warum also agieren TV-Sender nicht ähnlich? Auch sie betreiben schließlich Marktforschung, erheben Zuschauerdaten und die Einschaltquote. Entweder sind die Daten nicht gut genug für interessantere TV-Produkte oder die Sender wissen nicht genug damit anzufangen. Oder diejenigen Fernsehzuschauer, deren Daten ausgewertet werden, haben gänzlich andere Interessen als jene, die YouTube und Netflix nutzen.

Anke Schäferkordt war viele Jahre Chefin des deutschen RTL, steht mittlerweile mit Guillaume de Posch an der Spitze der Mutterfirma RTL Group. „Wir sehen uns als Bewegtbild-Anbieter auf allen Plattformen und auf allen Endgeräten“, sind solche Sätze, die Schäferkordt derzeit sagt, wenn sie nach der Online-Konkurrenz gefragt wird (hier auf der dmexco, einer Konferenz für digitales Marketing). Sie redet über Content und nicht über die Geräte, auf denen die Inhalte abgespielt werden – und liegt damit richtig, denn Inhalte oder deren Qualität (siehe Netflix oder YouTube) sind das Nonplusultra der digitalen Unterhaltungswelt geworden. Nur: Welche Inhalte haben die klassischen RTL-Sender in den vergangenen Jahren zu bieten gehabt, die neu und einflussreich waren, die Trends begründet haben oder die Menschen zu RTL geschwemmt haben, auf welchem Gerät auch immer?

Im September wird der Hauptsender RTL vermutlich weniger als 13 Prozent Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen Zuschauer erzielen – in einem Monat innerhalb der TV-Season und nicht in der Sommerpause. Dass der einst unanfechtbare Marktführer nur noch knapp vor ProSieben steht, ist kein Zufall: ProSieben hält seine Quote seit Jahren konstant, weil es eine Marke beim jungen Publikum ist; fast schon eine Ausnahme der Regel. RTL hingegen bekommt die Konkurrenz hart zu spüren, hat viele junge Zuschauer verloren. Da helfen auch die zahlreichen Nischensender (RTL Nitro etc.) nicht viel, die zwar Teilverluste auffangen, aber nicht verhindern können, was Walter Litterscheidt von der Media-Agentur Carat so zusammengefasst hat: „Immer weniger Menschen sehen immer mehr fern“. Sprich: Der konstant gebliebene Durchschnittswert der Fernsehnutzung vertuscht das eigentliche Problem der Reichweite: Wenn ein Mensch 100 Minuten fern sieht und der andere 0 Minuten, liegt der Durchschnitt bei 50 Minuten. Doch nur einer von beiden hat überhaupt vor dem Bildschirm gesessen. In der Realität ist diese Rechnung zwar noch nicht so dramatisch – aber immerhin 16 Prozent der 14- bis 49-Jährigen nutzen gar kein lineares Fernsehen mehr.

Große TV-Konzerne wie die RTL Group oder ProSiebenSat.1 haben daher längst begonnen, im digitalen Geschäft Fuß zu fassen. 2013 übernahm RTL die Mehrheit am amerikanischen Online-Vermarkter BroadbandTV, der allerdings keine eigenen Inhalte herstellt. Diese stellt RTL weiterhin über eigene Portale zur Verfügung, wo sie teils hinter Bezahlschranken verschwinden. ProSiebenSat.1 stellt sich etwas breiter auf, indem es Serien über eigene Webportale kostenfrei zum Abruf stellt und eigene Inhalte wie die Serie «Pastewka» anderen Video-On-Demand-Anbietern verkauft. Zudem bietet es mit Maxdome eine eigene Video-on-Demand-Plattform, die aufgrund der zahlreichen ProSiebenSat.1-Inhalte führender Anbieter für deutsche Sendungen auf diesem Markt ist. Mit Studio71 hat man einen eigenen Vermarkter für Online-Videos – hauptsächlich YouTube – gegründet, das unter anderem den beliebtesten deutschen YouTuber Gronkh unter Vertrag hat.

Zwei Entwicklungen der Digitalisierung sind benannt: Erstens die der fortschreitenden Fragmentierung, welche die Sendergruppen auch nicht ausreichend damit bedienen können, immer mehr kleine Nischenkanäle zu gründen. Dennoch wird für Schäferkordt die Entwicklung im Fernsehmarkt in Zukunft so weitergehen, „dass für jedes Spezialinteresse sogar ein Sender da ist.“ Doch zig Milliarden von Videos in Millionen von Channels bedienen die spezifischen Interessen des einzelnen Zuschauers besser – oder: präziser – als es das Internet je kann. Gleichzeitig erfüllt Video on Demand die Wünsche, die das lineare TV vielleicht generell auch bedient – aber eben nicht zu jedem Zeitpunkt. Wer «The Big Bang Theory» sehen will, kann dies im Fernsehen oft genug. Aber auch genau dann, wenn Sie diesen Text lesen? Oder am Sonntagmorgen? Oder in der Nacht um 02.34 Uhr?

Zweitens ist das Problem der Reichweite angesprochen: Wer einen 16-Jährigen fragt, wer die Apes, Dagi Bee oder LeFloid sind, wird mit Sicherheit eine richtige Antwort bekommen (es sind YouTube-Stars). Dass er sich genauso gut mit Oliver Geissen, Barbara Schöneberger oder Frank Elstner auskennt, ist weniger wahrscheinlich. Die Reichweite – und damit der Einflussbereich – des Fernsehens und seiner Protagonisten sinken, weshalb die Sendergruppen bereits jetzt mit eigenen Online-Aktivitäten darauf reagieren.

Die dritte sich abzeichnende Entwicklung ist die des fehlenden Mainstreams: Durch die angesprochene Fragmentierung wird es immer schwerer, Inhalte für eine breite Masse zu produzieren. Denn entsprechende Inhalte werden bestmöglich angepasst an große oder viele Zielgruppen. Aber dass viele Zuschauer eine Sendung ein bisschen mögen, reicht heute nicht mehr aus: Schließlich warten im Netz unzählige Angebote, die die eigenen Interessen genauer treffen und bedienen als das Massen-TV. „Es wird immer schwerer, einen wie auch immer gearteten Mainstream zu generieren, also sehr hohe Reichweiten zu generieren“, sagt Anke Schäferkordt auf der dmexco. Immer wichtiger werden die Inhalte, und damit der USP, wie Schäferkordt erklärt – das Alleinstellungsmerkmal also, das den Inhalt interessant macht. Die Nische ist der neue Mainstream, und diese erreicht man gerade nicht dadurch, glattgespültes Massenfernsehen zu machen. «Stromberg» und Co. waren nur die (seriellen) Vorreiter dieser Entwicklung.

Was Anke Schäferkordt damit ebenfalls impliziert: Es gelingt dem Fernsehen nicht mehr, die wahren Straßenfeger zu schaffen – riesig erfolgreiche TV-Sendungen, die Millionen Menschen schauen. Bis 2004 gab es solche Megatrends immer wieder: mit «Wer wird Millionär?» und dem Quizboom, mit der «80er Show», mit den Castingshows und allen voran «DSDS», und eben 2004 zuletzt mit dem Dschungelcamp. Letzteres ist auch heute noch erfolgreich, bestätigt aber eher die Regel des neuen Fernsehens: Große Reichweite generiert man durch Events, also durch Programme, die es live einzuschalten lohnt. Wie solche Events als Alleinstellungsmerkmale funktionieren, ist eine der wichtigsten Fragen für Fernsehproduzenten geworden. Auch das ist der neue Mainstream.

Fragmentierung, neuer Mainstream und Reichweite sind die drei wichtigen Herausforderungen der Digitalisierung. Sie bereitet klassischen Sendergruppen vor allem deswegen Probleme, weil eine neue Konkurrenz entstanden ist. Eine, von der man manchmal den Eindruck bekommt, dass sie diese neuen Märkte besser versteht als die Sendergruppen. Die neue Konkurrenz heißt Netflix oder Amazon Instant Video (Video on Demand), auch Mediakraft und Studio71 (YouTube). Oder Google, das als Besitzer von YouTube Macht erhält über die Inhalte, die dort eingestellt werden – und über die Konditionen, zu denen abkassiert wird.

Im Haushalt von Anke Schäferkordt sind, wie sie auf der dmexco aufzählt, zehn Endgeräte verfügbar, über die Inhalte konsumiert werden können. Was Digitalisierung bedeutet, sollte sie also besonders gut wissen.

Kurz-URL: qmde.de/73222
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