Hingeschaut

Zwischen Kuppelshow und Sozialexperiment

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Bitte nicht von Titel und Konzept täuschen lassen: Die neue Sat.1-Dokusoap «Hochzeit auf den ersten Blick» ist ambitionierter, als man zunächst denken würde - wenn man ethische Grundsatzfragen ausklammert.

Kennen Sie auch diese innere Contra-Haltung, sobald einschlägig bekannte Privatsender - also vor allem RTL, RTL II und spätestens seit «Auf Brautschau im Ausland» und «Schwer verliebt» auch Sat.1 - eine neue Kuppelsendung konzipieren? Als medienerfahrener Mensch weiß man, worauf es die Mehrzahl dieser Formate angelegt haben und es gibt zu viele negative Beispiele, als dass man dem Genre noch völlig unbefangen gegenüberstehen könnte. Auch im Falle von «Hochzeit auf den ersten Blick» gibt es sicher einige Aspekte, die man kritisieren kann. Schwerer wiegt aber nach der Auftaktfolge doch das Erstaunen - darüber, wie viele interessante Ansätze der Sat.1-Neustart hat. Und darüber, wie wenig die skurrile Ausgangsposition missbraucht wird, die Protagonisten in ein schlechtes Licht zu rücken.

Dabei hätte man hierzu alle Möglichkeiten gehabt, denn die Grundkonstellation der Dokusoap dürfte auf die meisten Zuschauer nahezu absurd wirken: Diverse Paare schließen beim Standesamt die Ehe, ohne sich zuvor jemals gesehen zu haben. Dazu soll sie einzig das Versprechen diverser Wissenschaftler animieren, anhand unterschiedlicher Analysen den vermeintlich perfekten Partner gefunden zu haben - was angeblich 68 von 120 Probanden ausgereicht hat, um sich auf dieses spezielle Experiment einzulassen. Die Eheschließung ist rechtskräftig, nach sechs Wochen werden beide Personen allerdings explizit danach gefragt, ob sie ihre Bindung fortführen oder sich doch lieber wieder scheiden lassen möchten.

Ein wichtiger und sehr stark betonter Aspekt des Formats ist die Forschung. Selten hat man bei einer Kuppelshow derart viele Experten in verschiedenen Forschungsgebieten zu Wort kommen lassen, selten wurde so ausführlich auf genetische, soziologische und psychologische Zusammenhänge eingegangen wie hier. Problematisch hieran: Gerade die ersten Minuten müssen derart viel erläutern und einführen, dass man vor dem Fernseher kaum noch mitkommt. Zwischen der Erklärung des Konzepts, den Untersuchungsmethoden der Analysten und der Vorstellung der paarungswilligen Singles wird munter hin und her geswitcht, sodass alles zunächst einmal etwas chaotisch und verwirrend rüberkommt. Hat sich das nach etwa 15 bis 20 Minuten allmählich gelegt, fokussiert man sich stärker auf einzelne Szenerien, das Fernsehpublikum findet sich hier dann allmählich ein - wenn es sich nicht schon nach schlichterer Kost umgesehen hat.

Positiv anzumerken ist in jedem Fall der Umgang mit den Kandidaten: Man lässt sie über ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Ängste sprechen, ohne dass diese Wortbeiträge in irgendeiner Weise von außen gesteuert wirken. So bekommt man zwar nicht die markigen Sprüche geliefert, mit denen «Schwiegertochter gesucht» Woche für Woche für große virale Erheiterung sorgt, doch man fühlt sich dafür umso mehr in die Gedankenwelt der Menschen ein - was nicht unwichtig ist, wenn das hier durchgeführte Experiment mit all seinen Vor- und Nachteilen auch in den Köpfen der Zuschauer stattfinden soll. Es gibt keine grinsend Empathie heuchelnden Moderatoren, keine Über-Inszenierung von persönlichen Schicksalen und keine Versuche, durch eine allzu plumpe audiovisuelle Untermalung das Publikum zu lenken.

Gerade die genutzte Musik ist deshalb aber keineswegs übermäßig dezent eingesetzt. Wer auch immer für die Auswahl der Stücke verantwortlich zeichnet, dürfte großer Fan flotter und aufdringlicher Dubstep- und Rock-Titel gewesen sein. Im schnellen Wechsel zwischen Stilen verkehrt kaum eine Minute, ohne dass im Hintergrund ein treibender Beat zu hören ist. Das macht die Sendung leider schon ein wenig hektischer als nötig, kaschiert allerdings auch ein wenig, wie ruhig die deutliche Mehrzahl der präsentierten Szenen eigentlich sind.

Wenig überraschend setzen die Macher ihren Schlussakkord in der Auftaktfolge so, dass man die Hochzeit des ersten Paares sieht. Die Situation ist zunächst skurril, als sich das frisch vermählte Paar nicht einmal einen Mundkuss zutraut, doch auch hier kann man sich nur allzu gut in die Situation einfühlen. Die weitere Entwicklung am Tag der Hochzeit ist jedoch derart positiv in Richtung "Liebe auf den ersten Blick", dass es beinahe etwas unrealistisch wirkt. Gleichwohl ist natürlich denkbar, dass man sich hier direkt das Paar ausgesucht hat, bei dem die Chemie am ehesten stimmte - hierüber werden erst die kommenden Wochen Aufschluss geben.

Doch so positiv man die Produktion des Formats bewerten muss, so fragwürdig ist es natürlich aus moralischer Sicht. Durch die starke Fokussierung auf wissenschaftliche Aspekte werden Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen hier derart rational und kalt, ja mitunter fast schon technokratisch beschrieben, dass der Weg zu einer Dystopie nicht weit ist. Immerhin beruht das gesamte Experiment auf der These, dass es anhand von Untersuchungen und Testverfahren möglich ist, perfekte Paare zu ermitteln - was nicht allzu weit entfernt ist von der Utopie des "perfekten Menschen". Ein weiterer Punkt, der gerade Kirchenvertretern überhaupt nicht schmecken dürfte: Da man die Ehe quasi mit dem ersten Date gleichsetzt, wird dieses für viele so zentrale und bedeutungsvolle Bündnis erheblich abgewertet. Margot Käßmann äußerte sich in der BamS wenig überraschend kritisch hierzu (siehe Infobox).

Wie bewerten Sie «Hochzeit auf den ersten Blick»?
Tolle Idee, tolle Umsetzung.
29,1%
Tolle Idee, aber die Umsetzung war schwach.
4,3%
Die Sendung ist gut gemacht, die Idee aber fragwürdig.
40,2%
In jeder Hinsicht furchtbares Format.
26,5%


Alles in allem muss man sich wohl die Frage stellen, welche Erkenntnis - oder besser: welche Anreize zu eigenen Überlegungsprozessen - man «Hochzeit auf den ersten Blick» extrahiert. Rennt man völlig euphorisiert gleich zum nächstbesten Standesamt, um sich diesem Versuch des "Blind Wedding" anzuschließen, hätte die Show sicher eher negative Auswirkungen auf den Rezipienten. Als Gedankenspiel und Anreiz, über die Messbarkeit menschlichen Handelns und Fühlens nachzudenken, ist das Gesehene weitaus besser geeignet. Und dass eine Dokusoap auf einem Privatsender überhaupt Anlass zum Denken gibt, ist eigentlich schon erstaunlich genug.

Vier weitere Folgen von «Hochzeit auf den ersten Blick» laufen in den kommenden vier Wochen immer sonntags um 17:55 Uhr in Sat.1.

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